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Pianomann mit Musik
zurück ins Leben holen

Mehr als 1000 Hinweise auf stummen Unbekannten

London (dpa). Zwei Monate schon rätselt England, wer der stumme Pianomann ist: der junge Mann, der nicht spricht, aber wie ein Meister Klavier spielt. Auch eine neue Spur erwies sich als falsch.
Der Unbekannte stellt Polizei und Ärzte vor Rätsel.
Ein Rockmusiker wollte in dem Fremden - wie berichtet - den tschechischen Musiker Tomas Strnad erkannt haben. Doch Strnad meldete sich und stellte klar, dass er es nicht ist.
Mehr als 1000 Leute haben sich weltweit schon gemeldet und gesagt, der Pianomann sei ihr Ex-Freund, ihr Nachbar, ihr Kollege... 250 unterschiedliche Namen sind genannt worden - aber das Rätsel lässt sich einfach nicht lösen.
Zuerst beteuerte ein in Rom lebender Pole, der Pianomann sei »zu 99 Prozent« ein französischer Straßenmusikant, mit dem er zusammen in Nizza aufgetreten sei. Dann sollte es sich um einen 42-jährigen Wolfsburger handeln: »Ich hab ihn sofort in den Zeitungen erkannt - an seinen traurigen Augen«, sagte eine Nachbarin. Doch wie sich herausstellte, war der Mann nur umgezogen.
Ein Musikstudent aus Münster, ein Pianist aus Schweden, ein seit Jahren vermisster Kanadier - man müsste mit einem Riesenteam rund um die Uhr recherchieren, wollte man alle Fährten verfolgen.
Und der Pianomann selbst? Er lebt seit mehreren Wochen in einer psychiatrischen Klinik südöstlich von London. Auf seinem Zimmer hat er ein kleines Klavier. Die Psychiater haben die Hoffnung, dass es ihnen vielleicht irgendwann gelingen wird, über die Musik Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Seit der auf Anfang 20 bis Mitte 30 geschätzte Mann in einem klatschnassen Anzug am Strand eines englischen Seebades aufgelesen wurde, hat er kein Wort gesprochen. Dolmetscher haben ihn in den verschiedensten Sprachen angeredet - ohne Ergebnis. Papiere hatte er nicht bei sich, aus seinem Anzug waren alle Etiketten herausgetrennt. Das lässt der britischen Boulevardpresse Raum für Spekulationen: Könnte es nicht sein, dass er Opfer eines Verbrechens geworden ist - dass man ihn auf einem Kreuzfahrtschiff über Bord geworfen hat? Dass er zwar an Land schwimmen konnte, aber durch den Schock sein Gedächtnis verlor?
Dass er etwas Furchtbares mitgemacht hat, glauben auch seine Ärzte. »Sobald ich mich ihm nähere, wird er sehr nervös«, sagt Michael Camp, der Sozialarbeiter, der ihn betreut. »Nur am Klavier, da wird er lebendig. Da kann ich auch direkt neben ihm stehen, und es macht ihm nichts aus.« In dem Krankenhaus, in das er zunächst gebracht worden war, gab er an einem Konzertflügel ein vierstündiges klassisches Konzert.
Viele erinnert der Fall an den Film »Shine - Der Weg zum Licht« (1996), der auf einer wahren Geschichte beruhte: Der hochmusikalische David Helfgott wird von seinem ehrgeizigen Vater - dargestellt von Armin Mueller-Stahl - so lange am Klavier gedrillt, bis er daran zerbricht und in eine Nervenheilanstalt kommt, wo er nur noch in wirren Halbsätzen spricht. Helfgott und der Pianomann haben auf jeden Fall eines gemeinsam: Nur in der Welt der Musik fühlen sie sich zu Hause.

Artikel vom 02.06.2005