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Leitartikel
EU-Verfassung


Klare Signale
aus
Kerneuropa


Von Reinhard Brockmann
Franzosen und Niederländer haben über die EU-Verfassung den Stab gebrochen - und sich nicht von ihren Parlamenten den Stimmzettel aus der Hand nehmen lassen.
Zwischen 55 Prozent »Non« und knapp zwei Drittel »Nee« dürfte auch hierzulande das »Nein« ausfallen, wenn die Deutschen selbst gefragt würden. Alle drei Gründungsmitglieder der EU haben gute Gründe, zu bremsen. Die Politik wäre gut beraten, auf die Meinung insbesondere jener Europäer zu hören, die diese Union ursächlich gewollt haben und seit Jahrzehnten tragen. Franzosen, Niederländer und Deutsche zählen gewiss zu den bewusstesten und auch erfahrensten EU-Bürgern. Ein Projekt des grenzenlosen Großeuropas liegt ganz offenbar nicht in ihrem Sinne.
Brüssel, so ist zu fürchten, tut dennoch weiter so, als sei nichts geschehen. Schließlich ist in einer Protokollnotiz festgeschrieben, dass erst Ende 2006 Bilanz gezogen wird. So heißt es von dort eurokratisch korrekt.
Aber: Europa muss den Abstimmungsprozess abbrechen und sich eine weniger weitgehende Grundordnung geben. Alle seine Bürger sollten dann an einem Tag gemeinsam über ein bescheideneres Konzept abstimmen. Demokratie statt Eurokratie. Damit ginge weniger Zeit verloren, das wäre ganz nebenbei auch im Sinne der schwindenden Finanzkräfte.
Die Regierungschefs der Union werden am 16. und 17. Juni in Brüssel beraten. Frankreichs angeschlagener Präsident wird dann die nur noch befristet regierende Führung der Deutschen treffen, welche gerade den Euro schwach redet. Großbritanniens Tony Blair regiert auch nur noch mit halber Kraft - dicke Wolken über dem zu erklimmenden Gipfel. Man wird für die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses plädieren, obwohl Handeln angesagt ist.
Die Parlamente in Estland, Finnland, Lettland, Malta, Schweden, Zypern und Belgien müssen nur zustimmen, selbst das wird jetzt kritisch. Unsicherheiten werfen aber alle richtigen Volksabstimmungen auf, die in Tschechien, Luxemburg, Polen, Dänemark, Portugal, Irland und Großbritannien vorgesehen sind. London prüft schon, ob man sich nicht irgendwie abseilen kann.
Obwohl formell kein Zusammenhang besteht, wird die Türkei-Frage der europäische Lackmustest. Hier sind Wunsch und Wirklichkeit in ihrem absolut krassen Gegensatz überdeutlich. Auf vielen europäischen Baustellen ist inzwischen die Unvereinbarkeit von Vision und Realität unübersehbar.
Nur deshalb wurde der Kardinalfehler national unterschiedlicher Abstimmungsverfahren und Abstimmungstermine möglich. Als wenn sich ein Volk seine Zustimmung beziehungsweise Ablehnung derart weitgehender Grundsatzentscheidungen beliebig nehmen, geben oder gar verordnen ließe. Die Quittung erhalten jetzt die Regierungen, deren Bürger entweder nationale Dinge zur Abstimmung stellen oder ihrer Führung komplett die Gefolgschaft verweigern.

Artikel vom 02.06.2005