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Hansen setzte seinen Weg auf der anderen Schiffsseite zum Salon fort, wo Fiete Rum auch nicht zu finden war, und zog dann kurz Bilanz. Es war nicht anzunehmen, dass der Kerl sich beim Kapitän auf der Brücke aufhielt und genauso wenig im Maschinenraum. Was blieb dann? Der Waschraum? Der war schnell durchsucht.
Es blieb die Möglichkeit, dass Hansen hinter dem Falschen her war.
Das aber brachte die Angelegenheit gleich in eine andere Dimension. Im Grunde glaubte er nicht daran. Etwas irritiert rieb Hansen sich das Kinn und kehrte zum Achterdeck zurück.
Der Holzschuhmann saß noch auf seinem Platz und schnarchte, den Nacken auf dem Sims des Salonfensters und den nagelneuen Hut tief ins Gesicht gezogen. Hansen holte sich einen Stuhl unter das Schutzdach und beobachtete ihn verstohlen.
Der Kerl war schwer einzuschätzen, zusammengesetzt aus einer kaum wahrnehmbaren Spur Urlauber und einer größeren Portion von etwas Undefinierbarem. Sahen so die Männer aus, die gewerbsmäßig in den Kurorten Badegäste ausnahmen? Vielleicht war er ein Taschendieb? Hansen klopfte sich auf die Brust. Seine Brieftasche war, wo sie hingehörte.

Als das gleichmäßige Stampfen der Maschine plötzlich erstarb und der Dampfer sich nur noch in den Wellen wiegte, schreckte Hansen auf. Was war jetzt wieder los? Ein Attentat auf den Maschinisten? Hatte der Stoß, der ihn vorhin getroffen hatte, gar nicht ihm gegolten? War er nur jemandem im Weg gewesen? Was ging auf diesem Dampfer vor?
Hansen war auf den Beinen, ohne sich lange zu besinnen, und stürmte den Gang entlang, wo er den Abgang zum Maschinenraum jetzt ordnungsgemäß geschlossen vorfand. Er riss die Tür auf und sprang über das Schott. »Alles in Ordnung da unten?«, schrie er hinunter.
»Wer is'n da?«, brüllte es respektlos zurück, dann tauchte der Maschinist auf. Mit dem Kopf im Nacken, staunte er nach oben. »Sie schon wieder? Sie fühlen sich wohl mächtig von unserer neuen Maschine angezogen! Aber ich lasse Sie nicht herunter! Absolut verboten! Außerdem habe ich im Augenblick Ärger mit dem Ding.«
»Vergessen Sie's. Es war falscher Alarm«, rief Hansen und stieg nach draußen, bevor womöglich er in Verdacht geriet, den Maschinenschaden verursacht zu haben.
Verärgert wegen seiner plötzlichen Nervosität, schlenderte Hansen zum Heck zurück, wo der Holzschuhmann jetzt an der Reling lümmelte und ins Wasser stierte.
Der Dampfer hatte Hooge hinter sich gelassen und befand sich mitten im Gewässer zwischen Amrum und Nordmarsch. Hansen fiel sein Vorsatz aus der Wyker Hafenkneipe ein. Geradezu schadenfroh nahm er den Strohhut vom Kopf und ließ ihn fortfliegen. Er landete im Kielwasser des Dampfers, das sich längst beruhigt hatte, und begann zu treiben.
Interessiert schaute Hansen ihm nach. Seltsamerweise zog der Hut nicht mit dem auflaufenden Flutstrom Richtung Wyk davon. Verhielt sich ein Hut anders als eine Leiche?
»Was ist das denn?«, fragte der Holzschuhmann, der nahe an Hansen herangerückt war, ohne dass er es bemerkt hatte.
»Ein physikalisches Experiment. Und eine Bestattung«, antwortete Hansen mürrisch, dem solche Zudringlichkeit unangenehm war und der auch den Tonfall ausgesprochen frech fand.
Der Mann staunte ihn mit offenem Mund an und brach dann in brüllendes Gelächter aus, während er mit einer schwieligen Hand auf die Reling klatschte. »Die Seebestattung eines Hutes! So was! Aber eigentlich gehört ja eine Leiche unter den Hut!«
Hansen blieb ihm eine Entgegnung schuldig. Voll Unbehagen sah er ihm nach, als er sich davonmachte.
Den Strohhut hatte Hansen inzwischen aus den Augen verloren. Er nahm sich vor, die genaue Windrichtung an Land zu überprüfen. Vielleicht besaß der attraktive, lebhafte, moderne Ort Wittdün ja schon einen Kompass für Gäste.
Als der Dampfer an der Brücke von Amrum Hafen angelegt hatte, spülte es Hansen innerhalb eines Pulks von Inselbesuchern von Bord. Den Holzschuhmann sah er nicht mehr, hingegen trotz der vielen Neugierigen und Müßiggänger, die ihren Nachmittagsspaziergang zum Anleger gemacht hatten, sofort ein bekanntes Gesicht. Aksel Andresen, der mit einer Rose in der Hand augenscheinlich eine Dame vom Schiff abholen wollte.
Andresen winkte und schob sich durch die Menge, den Blick auf Hansen gerichtet. Verblüfft blieb Hansen stehen. Andresen kannte ihn doch gar nicht. Und eine Rose zur Begrüßung?
»Ich sehe, Ihr Amt folgt meinem Ratschlag. Dass Sie sich postwendend auf den Weg gemacht haben, gefällt mir«, sagte Andresen. »Zum Leuchtturm, vermutlich.«
Hansen verbeugte sich knapp. »Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt.«
Andresen brach in schallendes Gelächter aus. »Typisch preußischer Beamter! Ich kenne Sie! Sie sind der unmögliche Mensch! Ich sah Sie im Zimmer Ihres Amtsleiters. Sie wirkten zornig und etwas beleidigt wie ein Erstklässler, der in die Ecke gestellt worden war. Ihr Chef greift offenbar durch. Tatkräftiger Mann. Wie hieß er doch gleich? Lorenzen?«
»Petersen«, berichtigte Hansen und ging zum Dänischen über. »Mein Name ist Sönke Hansen. Und ja, ich bin auf dem Weg zum Leuchtturm.«
»Donnerwetter!«, lobte Andresen mehrdeutig. »Wenn Sie über Nacht bleiben, Hansen, gehen Sie in eins meiner Hotels, das Solitüde, würde ich vorschlagen, und lassen die Rechnung an mich schicken.«
»Vielen Dank, Herr Andresen«, antwortete Hansen mit vor Zorn dumpfer Stimme. »Das wäre wohl nicht angebracht.«
»Oh, ich hatte schon gehofft, Sie wären gar nicht so preußisch akkurat.«
Stumm versuchte Hansen, den Ärger zu schlucken. Er war zwar von manchen Preußen ebenfalls nicht begeistert, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er der Schimpfkanonade eines dänischen Kapitalisten in dieser Sache zustimmte. Plötzlich fiel ihm der Flaggenmast ins Auge, nach dem er sich schon verstohlen umgesehen hatte. Irgendetwas war daran sonderbar.
Andresen folgte seinem Blick. »Oh, eine preußische Fahne an einem meiner Hotels? Hatte ich noch gar nicht bemerkt. Sehr national.«
Sönke Hansen beschattete seine Augen mit der Hand und fing an zu grinsen, als er sich ganz sicher war. »Keine schwarz-weiße preußische Fahne. Überhaupt keine Fahne. Ein friesischer Grütztopf. Noch nationaler.« Die Windrichtung ließ sich daran keinesfalls ablesen.
Andresen begann wieder schallend zu lachen. »In der Hinsicht seid ihr Friesen schon fast Dänen«, meinte er. »Macht nichts. Ist eine völlig harmlose Demonstration. Meine Angestellten sind alle gutartig.«
Das stimmte. Friesen waren friedfertige Leute.
Andresen stellte sich auf die Zehenspitzen und schwenkte mit heiterer Miene die Rose. »Ich muss fort, junger Mann, hat mich sehr gefreut.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.06.2005