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Leitartikel
Wache Bürger - Europa lebt

Mit allem
haben sie
gerechnet...


Von Rolf Dressler
Erst das »Non« der Franzosen und nun sogleich der zweite Schlag ins Brüsseler Spitzen-Kontor, das »Nee« unserer niederländischen Nachbarn.
Natürlich läuft der Großmotor Europa jetzt mächtig heiß. Deswegen braucht das Jahrhundert-Vorhaben auf dem jungen Alten Kon- tinent aber durchaus nicht gleich jämmerlich an einem »Kolbenfresser« zugrunde zu gehen - selbst wenn sich manche Projekt-Phantasten von gestern heute plötzlich wie ungewohnt hysterische Bestattungsunternehmer aufführen.
Sogar noch bis kurz vor den beiden aktuellen Volksentscheiden über die EU-Verfassung pfiffen sich die Pfeifer im Walde immer wieder Mut zu. Doch Europas Führungsklasse unterlief ein unbegreiflicher Anfängerfehler: Sie rechnete mit allem - nur nicht mit den Bürgern.
Der Krokodilstränen-Katzenjammer, der nun anhebt, ist mithin hausgemacht. Denn der Groll und das Unbehagen, das sich binnen drei Tagen bei Franzosen und Niederländern bahnbrach, grassiert auch anderwärts ganz kräftig. Auslöser war das Südenregi- ster der allzu selbstgewissen Europa-Gestalter aller National- und Parteifarben. Dabei verstärkte sich mehr und mehr der Eindruck, dass dem Groß-Europa der »25« ein inhalts- und wirkungsschweres supranationales Verfassungswerk übergestülpt werden soll, obwohl dieses neue Europa noch keine wirklich schlüssige und stabile Idee von sich selbst hat.
Stattdessen hört man die Ratlosen und die Hilflosen nun rufen, »man« müsse »die Verfassung retten«. Doch der Stachel sitzt viel tiefer - direkt am Nerv der Menschen, denen die Politiker vor wichtigen Wahlen stets so gern versichern, sie wollten sie als »mündige Bürger« nach Europa »mitnehmen«. Die Wirklichkeit sieht anders aus:
Englands Premier Tony Blair kegelt den Volksentscheid kurzerhand von der Tagesordnung.
Frankreichs Alt-Präsident und EU-Verfassungsvater Valéry Gis- card d'Estaing empfiehlt gar einen baldigen zweiten Volksentscheid-Versuch etwa nach dem Motto »Wählen, bis es passt«, während Luxemburgs EU-Ratschef Jean-Claude Juncker sich immerhin zu der Aussage durchringt, er »respektiere« das Nein der Franzosen und Niederländer, das nur vordergründig allein der EU-Verfassung galt.
Man täusche sich nicht. In ihr klares Nein schlossen die ab- stimmenden Völker noch weit mehr ein: das Schönreden des Euro, der tatsächlich ein »Teuro« wurde; die schlimmen Basar-Händel mit dem Stabilitätspakt, der nur noch ein todgeweihter Torso ist; die Aussicht auf einen EU-Beitritt der Türkei, der die schon jetzt drückenden Probleme mit Zuwanderern aus dem islamischen Kulturkreis vervielfachen könnte.
Und im Gedächtnis blieben si- cherlich auch vielen Pro-Europäern wohl auch Jean-Claude Junckers denkwürdige Worte hoch herab vom EU-Olymp: »Wir beschließen etwas, und wenn es kein großes Geschrei gibt, weil die meisten gar nicht begreifen, was da passiert, machen wir weiter...«
Die Bürger sind hellwach. Deshalb ist Europa nicht verloren.

Artikel vom 03.06.2005