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Herr der Bücher
wird gefeiert

Reich-Ranicki hat 85. Geburtstag

Von Nicola Prietze
Frankfurt/Main (dpa). Wenn Marcel Reich-Ranicki über Bücher spricht, kennt er keine Kompromisse: Entweder zerreißt er sie gnadenlos - oder er lobt sie mit Verve.
Deutschlands berühmtester Literaturkriker: Marcel Reich-Ranicki.Foto: teutopress

Sein leichtes Lispeln und seine etwas krächzende, aber durchdringende Stimme - Markenzeichen wie sein wild durch die Luft fuchtelnder Zeigefinger - sind unendlich oft parodiert worden. Bis heute ist »MRR« die zentrale Instanz der Literaturszene, ein Medienstar, oft als »Literaturpapst« bezeichnet, auch wenn er diesen Ausdruck nicht mag. Morgen wird Deutschlands meistbeachteter und auch meistgefürchteter Literaturkritiker 85 Jahre alt.
Seine Heimatstadt Frankfurt gibt ihm zu Ehren zusammen mit dem ZDF und der »FAZ« abends einen Empfang in der Paulskirche. Als Laudatoren sind Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher und Moderator Thomas Gottschalk geladen. Das ZDF gratuliert heute nacht um 0.10 Uhr mit der Sendung »Der Herr der Bücher«.
Die meisten Deutschen kennen Reich-Ranicki als Kopf des »Literarischen Quartetts« im ZDF. Von 1988 bis 2001 besprach er mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler (zum Schluss Iris Radisch) und einem wechselnden Gast in 77 Sendungen mehr als 400 Bücher. Das »Quartett« erreichte ein Millionenpublikum und hatte Macht: Was es besprach, egal ob Lob oder Verriss, wurde oft über Nacht zum Bestseller. »MRRs« Urteil ist oft hart, bisweilen unfair. »Die Klarheit ist die Höflichkeit des Kritikers, die Deutlichkeit seine Pflicht und Aufgabe«, lautet sein Credo. Dabei lasse sich Grausamkeit »leider nicht immer ausschließen«.
Das bekamen unzählige Schriftsteller zu spüren, allen voran Günter Grass. Dessen Roman »Ein weites Feld« bescheinigte er 1995 im »Quartett« und in einer »Spiegel«-Titelstory, er sei »wertlose Prosa, langweilig von der ersten bis zur letzten Zeile, unlesbar!« Grass warf dem Kritiker gekränkt Größenwahn vor. Erst 2002 kam es zur Annäherung. Inzwischen habe sich das Verhältnis zu seiner Freude »wesentlich verbessert«, sagt der Kritiker heute. In einem Beitrag für ein Büchlein zum 85. hat Grass ihn gar aus der Ferne »umarmt«.
Auch Autor Peter Rühmkorf kündigte dem Kritiker wegen des Grass-Verrisses die Freundschaft. Mit ihm hat sich Reich-Ranicki später aber ebenso wieder vertragen wie - nach zehnjähriger Fehde - mit Walter Jens.
Mit Martin Walser hat Reich-Ranicki noch eine Rechnung offen, unter anderem wegen Walsers 2002 erschienenen Skandalbuchs »Tod eines Kritikers«. Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, der unschwer als Reich-Ranicki zu erkennen ist. Angesichts seiner Vita, die er in seiner millionenfach verkauften Autobiografie »Mein Leben« beschrieb, ist das verständlich: Seine polnisch-jüdische Familie wurde von den Nazis verfolgt, seine Eltern und die seiner späteren Frau Teofila - mit ihr ist er seit mehr als 60 Jahren verheiratet - kamen um. Dem Paar gelang die Flucht. Über Umwege, kam Reich-Ranicki 1958 nach Deutschland und machte sich zunächst als scharfzüngiger Kritiker bei der »Zeit« einen Namen.
Von 1973 bis 1988 leitete er die »FAZ«-Literaturredaktion. Doch noch immer schreibt er jede Woche eine Kolumne und verantwortet Rezensionen für die überregionale Tageszeitung.

Artikel vom 01.06.2005