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Erste europäische Verfassung
steht nach »Non« auf der Kippe

Niederlande stimmen morgen ab - Blair denkt an Absetzung des Referendums

Brüssel/Berlin (Reuters). Nach der deutlichen Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich steht das ehrgeizige Reformprojekt der Europäischen Union möglicherweise vor dem Aus. In den nächsten Tagen und Wochen könnte sich das Schicksal des Vertragswerks entscheiden, das die erweiterte EU handlungsfähig halten soll.
Die britische Regierung ließ gestern wenige Stunden nach dem klaren »Non« von 55 Prozent der Franzosen offen, ob sie noch an ihren Plänen für ein Referendum festhält. Premierminister Tony Blair sagte, er hoffe morgen auf die Zustimmung der Niederländer. Umfragen lassen auch in diesem Gründungsland der Union eine Ablehnung erwarten. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso sagte: »Es gibt eine Ansteckungsgefahr« für die Referenden in anderen Ländern. Die Staats- und Regierungschefs der EU beraten in zwei Wochen über die Krise.
Die erste europäische Verfassung war in mehr als zweijährigen Verhandlungen von EU-Regierungen und Parlamentariern entworfen worden. Um in Kraft zu treten, muss sie von allen 25 EU-Staaten ratifiziert werden. Frankreich ist das erste Land, das sie ablehnte, nachdem zuvor neun Staaten zugestimmt hatten. Allerdings haben nur die Spanier bislang ein Referendum abgehalten.
Die Beteiligung an dem Referendum war mit 69,7 Prozent ungewöhnlich hoch. Viele Wähler wollten offenkundig Präsident Jacques Chirac und seiner Regierung wegen der hohen Arbeitslosigkeit einen Denkzettel verpassen. Chirac kündigte eine Regierungsumbildung an, schloss persönliche Konsequenzen aber aus.
Führende EU-Regierungschefs, darunter der luxemburgische EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker und Bundeskanzler Gerhard Schröder, forderten unmittelbar nach der Ablehnung in Frankreich, die Ratifizierung in den anderen EU-Staaten fortzusetzen. Erst anschließend sollten die EU-Institutionen Bilanz ziehen, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Präsidenten von EU-Kommission, Barroso, Rat der Mitgliedstaaten, Juncker, und EU-Parlament, Josep Borrell.
In Polen wies Regierungschef Marek Belka Forderungen der Opposition nach einem Verzicht auf das Referendum zurück. Der Chef der oppositionellen Bürgerplattform PO, Donald Tusk, hatte zuvor ein Ende der Ratifizierung in Polen gefordert. Umfragen zufolge dürften PO und die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im September die Parlamentswahl gewinnen. Sie sind gegen die Verfassung.
Die Ablehnung der Franzosen löste europaweit eine Debatte über Nachverhandlungen der Verfassung aus. Der CDU-Außenpolitiker Wolfgang Schäuble sagte: »Ohne Frankreich kann der Verfassungsvertrag nicht in Kraft treten. Man muss schauen, ob man ihn nachbessert.« Die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, verlangte, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen. »Wenn wir die Europäische Union überdehnen und das Übermaß an Bürokratie nicht abbauen, wird uns das nur schwer gelingen.«

Artikel vom 31.05.2005