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Leitartikel
In Berlin wird durchgelüftet

Schlag auf Schlag im Staatstheater


Von Rolf Dressler
Es war gegen Ende der DDR-Endzeit in den späten 1980er Jahren, da fand sich in dem dortigen, zunehmend müpfigen Satire-Magazin »Eulenspiegel« auch diese erheiternde Mahnung: »Vorsicht ist, wenn sich die Universitätsverwaltung über das Mensa-Essen informiert, ohne es je selbst zu kosten.«
Das lässt sich - mit ein wenig Phantasie - durchaus auch auf die Schlussrunden des Modells Rot-Grün übertragen, dessen Halbwertzeit mit jedem Tag nur noch rascher abzulaufen scheint. Es ist, als fragten sich die konsternierten, (noch) regierenden Damen und Herren in Berlin, ob sie es mit der Vorsicht nicht doch zu weit getrieben haben könnten. Denn wer dem Bürgervolk sieben Jahre lang eine solch krause Polit-Kost verabreicht, ohne sie je selbst abzuschmecken oder gar auslöffeln zu müssen, verliert unausweichlich das Gespür dafür, was, wenn auch unter Magengrimmen, noch verträglich ist und was ungenießbar oder sogar staatsgesundheitsschädlich.
Gleichwohl vermehren sich Einsichten und Selbsterkenntnisse seit des Kanzlers Neuwahlen-Signal am NRW-Wahlsonntagabend beinahe stündlich. Offenbar schickt sich Stillstand-Deutschland an, das knallige Rot-Grün-Karo abzustreifen. Urplötzlich drängen Wahrheiten und Wirklichkeiten ins Freie, die viele Jahre lang gezielt unter der Decke gehalten worden sind zum Zwecke des Machtgewinns und des Machterhalts, je nachdem.
Gestern nun steuerten zwei besonders ausgesuchte SPD-Partei- »freunde« von ehedem, jeder auf seine Weise, ihren Part bei:
- Gerhard Schröder geht geradewegs aufs Ganze. Faktisch kündigt er den bündnisgrünen Gesinnungsgefährten nicht nur die Freundschaft auf, er gibt ihnen unverhohlen den Laufpass.
- Das wiederum muss wie keinen anderen sonst vor allem Joschka alias Joseph Fischer tief ins Mark treffen. Den Mann also, der eben jenem Gerhard Schröder den Aufstieg vom einstigen Straßenkämpfer bis ins Amt des deutschen Außenministers und Vizekanzlers zu verdanken hat.
- Und es fügte sich wundersam im deutschen Polit-Staatstheater, dass ebenfalls gestern ein gewisser Oskar Lafontaine genüsslich seinen Austritt aus der SPD inszenierte, kurz vor der Vollendung des 39. Jahres seiner einstmals geneigten Mitgliedschaft.
Wieder einmal fühlt der legendäre »Napoleon von der Saar« sich berufen, ein Linksbündnis-Feuer zu entzünden. Ob damit im rot-grün verfahrenen Deutschland 2005 Furore zu machen ist, wer weiß? Der ohnehin stark angeschlagenen SPD wird der Spalter Lafontaine nur noch zusätzlich schaden. Nutzen daraus dürften also CDU/CSU und FDP ziehen.
Und wo eigentlich bleiben dann noch die Grünen? Grämen manche von ihnen sich womöglich darüber, dass sie allen Ernstes noch ein allerletztes Mal mit Joschka, ihrem Übervater und sogar »Gott Vater«(!) von gestern, in den Wahlkampf ziehen werden? Sei's drum, über Geschmacksfragen wird nicht vorrangig abgestimmt.

Artikel vom 25.05.2005