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Leitartikel
Referendum in Frankreich

Am Sonntag
steht viel auf
dem Spiel


Von Dirk Schröder
In Frankreich entscheidet sich am Sonntag das Schicksal der Europäischen Verfassung - und es steht schlecht aus für das Vertragswerk, das Europa auf Kurs halten und auf eine demokratischere Basis stellen soll. Wenige Tage vor der Abstimmung schwappt wenig Optimistisches von der anderen Seite des Rheins herüber.
Auch die sechste Umfrage in Folge signalisierte ein »Nein« der Mehrheit der Franzosen zu der Verfassung. Nun sollte jedoch niemand daraus den Schluss ziehen, an Seine und Loire mache sich zusehends anti-europäische Stimmung breit. Weit gefehlt: Viele Franzosen sehen in dem Referendum eine Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit mit dem Präsidenten Jacques Chirac auszudrücken und vor allem der ungeliebten Regierung Raffarin einen Denkzettel zu verpassen.
Hohe Arbeitslosigkeit, der Sparkurs der Pariser Regierung und die Reformpolitik - irgendwie kommt einem dies bekannt vor - bereiten den Bürgern große Sorgen. Und es sieht derzeit so aus, als müsste Europa diese Ängste ausbaden.
Es ist leider kein Horrorgemälde, wenn die Befürworter der Verfassung für den Fall eines »Nein« eine Krise in Europa an die Wand malen, deren Folgen noch nicht abzusehen sind. Und wenn der besonnene luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker fürchtet, Europa würde 20 Jahre verlieren, ist dies ein Hinweis auf das, was am Sonntag auf dem Spiel steht.
Frankreich war neben Deutschland immer das Land, das die Idee Europa als Motor vorangetrieben hat. Gerät dieser Motor ins Stocken, geht es auch mit Europa nicht voran.
Es sollte jetzt aber niemand einen Gedanken darauf verschwenden, nun sei die Chance gekommen, das Verfassungspaket noch einmal aufzuschnüren. Wer dies glaubt, dem mangelt es an Realitätssinn. Es ist ja zu verstehen, dass der eine oder andere bei diesem oder jenem Punkt gern einen anderen Akzent gesetzt hätte. Und es ist keineswegs unbedenklich, dass der Gottesbezug nicht ausdrücklich aufgenommen worden ist.
Doch wenn 25 Staaten an einer Verfassung arbeiten, kann immer nur ein Kompromiss herauskommen. Jedenfalls stimmt die Marschrichtung, es gibt keine wirklichen Alternativen - auch wenn es illusorisch ist, zu glauben, ein 500-Seiten-Vertragswerk schaffe schon eine europäische Identität. Europa erhält damit auf jeden Fall die notwendige Handlungsfähigkeit. Die Bürger von den Vorzügen der Gemeinschaft zu überzeugen, diese Aufgabe ist noch längst nicht beendet.
Die gegenwärtige Diskussion sollte aber auch zum Innehalten und Nachdenken anregen: Kann die EU eine nochmalige Erweiterung wirklich verkraften?
Doch zunächst steht unser Nachbar im Mittelpunkt. Es bleibt zu hoffen, dass die Franzosen für einen Moment ihren nationalen Ärger vergessen, sich auf Europa besinnen und »Oui« sagen.

Artikel vom 26.05.2005