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Der Hausherr humpelte kurze Zeit später herein und nahm ebenfalls Platz. Beglückt nahm er das Päckchen Tabak an, das Hansen vorsorglich dem Wirt abgeschwatzt hatte, und drehte es zwischen den rissigen Fingern. Hansen war froh, dem alten Mann mit dem schlohweißen Haar und den blassblauen Augen eine Freude gemacht zu haben. Seine Lippen schimmerten bläulich, und er atmete angestrengt.
Wirk tauchte auf, stand mit verlegener Miene auf dem Dielenboden, trat von einem nackten Fuß auf den anderen und sagte kein Wort.
Sönke Hansen begann sich unbefangen umzusehen. In der Ecke, die nicht von Alkovenbetten zugebaut war, lehnte ein langer, flacher Knochen, und auf dem dreieckigen Wandbord, das in jede friesische Stube gehörte, stand eine kurzschäftige Tabakspfeife, aber nicht das Porzellan aus der Walfängerzeit, das bei den meisten Halligleuten den Pesel schmückte. Diese Familie war immer arm gewesen.
»Stammt der Knochen von einem Wal?«, erkundigte sich Hansen höflich.
»Wohl«, antwortete der Großvater zurückhaltend.
»Urgroßvater hat die Rippe geschenkt bekommen«, erklärte Wirk stolz.
»Sein Vater war Walfänger«, ergänzte der Alte etwas aufgeschlossener. »Ertrank bei seiner dritten Reise, als die Schaluppe kenterte, weil der Wal unter ihr auftauchte.«
»Mm«, murmelte Hansen teilnahmsvoll und bedankte sich mit einem Nicken bei der Großmutter, die eine Tasse vor ihn stellte und den Tee eingoss, bevor sie den Pesel wieder verließ. »Schwere Zeiten waren das wohl.«
»Glückliche Zeiten waren das«, widersprach Nummen Bandick. »Die Seefahrt war immer besser als die Fischerei, aber der Walfang hörte dann ja auf. Ich war dankbar, dass ich von Föhrer Fischern als Junge aufgenommen wurde. Schellfisch und Kabeljau jagten wir auf offener See bei Amrum, und das war auch gefährlich. Später hatte ich dann mein eigenes Austernboot.«
»Damit werde ich uns ernähren, sobald ich konfirmiert bin, nicht wahr, Großvater?«, mischte sich Wirk stolz ein.
»Es wird zu alt, mein Junge«, sagte der alte Mann bekümmert. »Und was willst du damit fangen? Von Austern kannst du nicht mehr leben. Und wie willst du von der Hallig wegkommen? Das Wasserbauamt wird uns den freien Zugang zur See nehmen, hörte ich. Ich werde es zum Glück nicht mehr erleben.«
Hansen ertrug stumm, dass Wirk ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. »Der freie Zugang wird erhalten bleiben. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass ein kleiner Hafen gebaut wird É«
»Das glaube ich. Aber die Herren in Berlin entscheiden vielleicht, dass eine Hallig keinen Hafen benötigt.«
Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Es war für Hansen beklemmend, immer wieder mit den Fehlern seiner Vorgänger konfrontiert zu werden.

Hansen kaute auf der Unterlippe herum und beschloss dann, zu seinem Anliegen zu kommen. Er nahm einen Schluck Tee und zog den Eisenring aus einer Tasche, die er sich geliehen hatte. »Stammt der von einem Halligboot, Herr Bandick?«
Über das Gesicht des Großvaters ging ein interessiertes Leuchten, als er danach griff. Er betrachtete den Ring von allen Seiten. »Nein«, sagte er schließlich, »der stammt nicht von einem unserer Schiffe. Ich glaube nicht einmal, dass die Quatschen aus der Ostsee solche Beschläge haben. Aber sag Nummen zu mir.« Er gab den Ring an Wirk weiter, der es kaum erwarten konnte, ihn anzufassen.
»Warum hast du das olle Ding mitgebracht, Sönke? Das lag am Ufer, ich habe es auch gesehen.«
»Ich denke, der Ring hatte für den Toten eine Bedeutung«, sagte Hansen.
»Aber der ist erst später da hingekommen! Da war der Mann doch längst fortgeschafft worden.«
Hansen hörte Wirk nur mit halbem Ohr zu, während er darauf wartete, dass der alte Mann noch mehr sagte.
»Vielleicht stammt der Ring aus der Landwirtschaft.«
»Aus der Landwirtschaft«, wiederholte Hansen verblüfft und ein wenig ungläubig.
»Möglicherweise.« Der alte Mann holte sich den Ring von Wirk zurück und ließ einen gelblichen Fingernagel über die Oberfläche kratzen. »Nieten dieser Art sind mir fremd. Ich habe solche noch nie gesehen.«
Dass der Ring etwas Geheimnisvolles zu haben schien, bestätigte Hansens Vermutung, dass der Tote ihn mitgebracht hatte.
Aber so wie die Dinge lagen, konnte Hansen ihn nicht an Schliemann weitergeben. Statt sich über seine eigene schlampige Untersuchung Gedanken zu machen, würde Schliemann vermutlich wieder darauf zurückkommen, dass Hansen sehr wohl mit dem Todesfall zu tun hatte.
Wirks Großmutter öffnete die Tür und sah herein. »Draußen ist Lorns, der dem Bauinspektor etwas zu sagen hat. Hereinkommen will er nicht.«
Hansen erhob sich mit einem unguten Gefühl und ging zur Haustür, wo er unter dem gemauerten Bogen mit eingezogenem Kopf stehen blieb.
Lorns bellte los. »Ich möchte nicht, dass ein Fremder sich auf meiner Warf zu schaffen macht und an seinen Fingern womöglich etwas kleben bleibt, das mir gehört! Ich will dich auf der Peterswarf nicht mehr sehen, Hansen!« Er drehte sich auf den Hacken um und schlurfte davon.
Mit Achselzucken nahm Hansen zur Kenntnis, dass etliche erwachsene Bewohner der Warf das Gebrüll mitgehört hatten. Vermutlich war Lorns im Auftrag von Friedrichsen so lautstark vorgegangen. Der Ratmann hatte wohl vor, jede sich bietende Gelegenheit auszunutzen, um Hansens Position zu schwächen.
Die geplanten Schutzmaßnahmen der Hallig arteten allmählich zum Kampf zwischen einem Ratmann und dem Wasserbauamt aus. Die Leiche eines Unbekannten hatte Friedrichsen sich dabei zunutze machen können. Hansen fragte sich, was ihm noch alles einfallen würde.

Kapitel 9
An die Anwesenheit der Polizei auf der Hallig hatten sich alle allmählich gewöhnt, und als Polizeiwachtmeister Schliemann am Freitag wieder eintraf, kümmerte sich kaum noch jemand um ihn. Das änderte sich erst, als er Rouwert Wollesen die neueste Ausgabe der Föhrer Nachrichten überreichte.
Der Wirt überflog die Schlagzeilen. Sein empörtes Keuchen ließ Hansen, der gerade den Speiseplan auf der Schultafel studierte, aufmerken. »Das ist ja unerhört!«, schimpfte Rouwert. »Ich habe ihn doch nicht mit Porrenfrikadellen vergiftet!«
Hansen schlenderte zur Theke und warf einen Blick in den bemängelten Artikel, der die Überschrift trug: Halligen in bestürzendem Zustand. Ausgehend von der Tatsache, dass Hajo Clement Krabben des Vorjahres, salzig eingelegt, aber natürlich gewaschen, in Gestalt von Frikadellen vorgesetzt bekommen hatte, folgerte er, dass die Halligleute so roh von Gemüt seien wie ihre unverträglichen Speisen.
Über das gesuchte Boot ließ er sich nicht aus, jedoch über Sönke Hansen. Wenn es für möglich gehalten wird, dass auf Nordmarsch-Langeness ein preußischer Bauinspektor ermordet werden soll oder gar selbst mordet, schrieb Clement, kann man die Halligen nur mit dem Wilden Westen Amerikas vergleichen.
Jetzt selbst stumm fluchend, ging Hansen zu seinem üblichen Tisch, wo sein Teller schon aufgetragen worden war.
»Kann ich mich zu Ihnen setzen, Bauinspektor?«, fragte hinter ihm Schliemann. »Nur für einen Augenblick, dann dürfen Sie essen.«
»Meinetwegen«, sagte Hansen argwöhnisch, obwohl ihm der höfliche Ton durchaus auffiel. »Wenn Sie mich nicht aufs Neue beschuldigen É«
Kaum saß Schliemann, legte er schon mit betretener Miene los. »Sie sind von jedem Verdacht entlastet, Herr Hansen. Er war von Anfang an weit hergeholt, und es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass Sie mit dem Toten etwas zu tun haben. Meine Dienststelle bedauert das Versehen.«
»So. Danke«, sagte Hansen verblüfft. »Ich auch.«
»Das Ruderboot existiert nicht. Der Mann muss von einem Schiff gefallen sein. Wahrscheinlich eine handgreifliche Auseinandersetzung an Bord. Wir suchen jetzt nach einem Schiff, auf dem jemand vermisst wird.«
»Aha«, murmelte Hansen.
»Die Angelegenheit ist damit für Sie erledigt.« Schliemann erhob sich. »Wie gesagt, es tut uns Leid.«
»Und was macht man mit dem Kerl hier?«, fragte der Wirt, der aufmerksam zugehört hatte, und wedelte mit der Zeitung. »Kann man ihm den Mund stopfen?«
»Wohl kaum«, bedauerte der Polizist. »Hajo Clement ist meistens äußerst scharf, und es gibt Leser, die seinen Stil lieben. Er gehört zu einer neuen Generation von Zeitungsschmierern É«
»Womit wurde der Tote eigentlich erstochen?«, fragte Hansen.
»Mit einem spitzen Gerät, einer Schusterahle oder einem Marlspieker, vermutet der Arzt, den wir in diesem besonderen Fall zugezogen haben. Er hatte Zeit für uns, noch sind nicht viele Badeleute da.«
Hansen beugte sich vor, vom Jagdfieber gepackt. »Hat er festgestellt, wie der Stichkanal verlief?«
Der kleine Dicke betrachtete ihn mit offenem Mund, während er sich erhob und den Stuhl unter den Tisch schob.
»Ich meine«, führte Hansen geduldig aus, »wenn ich einen Priel durchdämmen will, muss ich auch erst seine Beschaffenheit feststellen, am besten mit den Füßen voran.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.06.2005