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Hansen nickte verständnisvoll. »Es ist wohl nicht so angenehm für die Amrumer, diesen Rummel anzusehen É«
»Angenehm? Sie hassen den Badeort Wittdün!«
»Derjenige, der mit dem Seemann sprach É«
»Haye.«
»Haye also. Hat Haye den Hamburger zufällig beschrieben?«
»Hat er. Weil der das Gegenteil von dem war, wie sich die Badedamen einen Matrosen vorstellen, und darüber hat er sich lustig gemacht. Der war einer von der heruntergekommenen Sorte. Hemd, speckige schwarze Weste, Holzpantinen, verfilzter Bart. Ein Häkelmützchen mit einem Ball als Toppzeichen hat der in seinem ganzen Leben nicht gesehen.« Broder lachte schallend.
Die Erwähnung des Bartes gab Hansen einen Ruck. »Ist es sicher, dass er einen Bart hatte? Und Holzschuhe trug?«
»Ich kann nichts anderes denken. Was sollte er denn sonst getragen haben? Um barfuß an Deck zu arbeiten, ist es noch zu kalt. Und der Bart ist ihm bis zum ersten Knopf gegangen. Drittes Knopfloch von oben.«
Hansen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und erhob sich halb. »Dann ist er nicht unser Mann. Der trug gute Lederstiefel. Einen Bart hatte er auch nicht. Damit ist meine Mission eigentlich beendet.« Und es erübrigte sich, selbst mit Haye zu sprechen.
»Wo sagtest du, ist die Leiche gelandet?«, erkundigte sich Bandick, als hätte er bei der ersten Erwähnung nicht genau hingehört.
»Unterhalb der zerstörten Peterswarf.«
»Ein Gegenstand treibt nie auf geradem Weg von Amrum Hafen nach Nordmarsch«, behauptete der Leuchtfeuermeister bestimmt. »Der Flutstrom setzt hier am Beginn der Norder-Aue nicht quer, sondern mit ihr. Nur wenn die Leiche hin und her gedümpelt wäre, hätte sie bei euch landen können.«
Sönke Hansen sah Wirk mit hochgezogenen Augenbrauen an. Darüber hatten sie sich ja schon unterhalten. »In dem Fall ist es ausgeschlossen, dass unser Toter von Amrum Hafen kam.«
Wirk verlor das Interesse. »Können wir nicht noch auf den Leuchtturm, Onkel?«, fragte er begierig.
Broder Bandick grinste. »Kann mich nicht erinnern, dass du mal nicht hochgewollt hättest.«
»Eben«, sagte Wirk zufrieden. »Dann komm jetzt.«
»Du bist ja so resolut geworden«, sagte Bandick anerkennend.

Der hohe braune Turm wirkte noch höher, weil er auf einer Düne stand. An seinem Fuß legte Sönke Hansen den Kopf in den Nacken und sah nach oben, bis ihm schwindelig wurde.
»Einundvierzig Komma acht Meter hoch. Über Hochwasser dreiundsechzig Komma zwei«, schnurrte Bandick herunter und zwinkerte seinem Neffen zu, wie Hansen aus dem Augenwinkel bemerkte. »Dann wollen wir mal.«
Ihre Tritte hallten blechern, als sie sich an den Aufstieg machten, immer im Kreis um den Schacht in der Mitte, in dem die Gewichte des Uhrwerks hingen.
Im Turmzimmer saß ein Mann am Tisch und schlürfte aus einer Tasse ein Getränk. »Es ist alles in Ordnung, Broder«, sagte er.
Bandick nickte ihm zu. »Habe es nicht anders erwartet. Ich will dem Deichbauinspektor Hansen aus Husum mal unseren Turm zeigen und was wir hier so machen.«
»Deichbauinspektor«, sagte der Mann am Tisch und neigte höflich den Kopf. »Viel Vergnügen. Halten Sie sich draußen fest, damit Sie nicht abheben. Es frischt auf.«
»Werde ich tun. Ich bin nicht für das Fliegen geschaffen, Zeppeline jagen mir Schrecken ein«, bekannte Hansen nicht ganz ernsthaft. »Mein Element ist das Wasser.« Er stemmte sich gegen den Luftzug, der zur Tür hereinfegte, als Wirk sie aufgedrückt hatte.
Draußen sah er sich einen Moment staunend um und begann dann eine Wanderung um den Turm herum. In Luv zerrte und riss der Wind an ihm, und ein Lee suchte er vergebens. Im Süden hatte sich eine Wolkenwand vor die Sonne geschoben, deren letzte sichtbare Strahlen ein schwarzes Seezeichen beleuchteten.
»Die Seesand-Bake«, erklärte Bandick, der Hansens Blick gefolgt war.
Seesand-Bake.
Hansen schmeckte den Namen geradezu auf der Zunge. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie eine besondere Bedeutung haben könnte.
»Die Seesand-Bake steht auch bei Hochwasser trocken und ist bei klarer Sicht um die zehn Seemeilen weit zu sehen«, erklärte Broder, der Hansens Interesse bemerkte.
»Und bei Nacht?«
»Gar nicht. Sie ist nicht beleuchtet. Dafür können sich bei Tage Schiffbrüchige in einen Schutzraum retten.«
»Ist das öfter nötig?«
»Gelegentlich. Die Wester-Brandung knapp nordwestlich davon ist sehr gefährlich. Diese Sände zwischen dem Land-Tief und dem Rüter-Gat haben an manchen Stellen nicht mehr als einen Meter Wassertiefe, und manche fallen bei Niedrigwasser sogar trocken. Selbst erfahrene Kapitäne haben dort schon ihr Schiff verloren.«
Eine Idee nistete sich in Hansens Kopf ein, die er zunächst als wenig wahrscheinlich abtat. Onkel und Neffe ließen ihn nachdenken und wanderten wieder zur anderen Seite hinüber. Die Hände fest um die Reling geklammert, hörte Hansen sie über die Fresnel'schen Linsen des Leuchtturms reden, während die Idee, die sich nicht vertreiben ließ, langsam Gestalt annahm.
Als die beiden wieder neben ihm standen, um ihn abzuholen, zeigte Hansen nach Süden. »Was befindet sich östlich der Bake?«
»Das Schmal-Tief. Das vereinigt sich mit dem Rüter-Gat. Und von der Bake zweigen zwei Wasserarme ab, die Norder-Aue und die Süder-Aue, die Nordmarsch-Langeness zwischen sich nehmen.«
»Beide vereinigen sich doch vor Nordmarsch, Onkel, oder?«, fragte Wirk aufgeregt.
»Ja, stimmt.«
»Dann wäre es«, sagte Hansen bedächtig, »doch viel wahrscheinlicher, dass ein Toter, der auf Nordmarsch angelandet wird, irgendwo bei der Seesand-Bake ins Wasser fiel.«
»Kann ich nicht genau sagen. Vielleicht auch weiter draußen vor dem Rüter-Gat. In dem Falle wäre das Schiff auf Fahrt an der Küste entlang gewesen, ohne die Inseln anlaufen zu wollen. Ins Rüter-Gat läuft kein seegehendes Schiff ein, das ist zu gefährlich, weil das Fahrwasser nicht gekennzeichnet ist. Im Gegensatz dazu ist das Schmal-Tief gut ausgeprickt und wird von Schiffen befahren, die nach Wyk auf Föhr wollen.«
»In Wyk wurde auf den Schiffen, die auf Reede lagen, kein Mann vermisst«, sagte Hansen sofort. »Jedenfalls war davon nicht die Rede. Allerdings weiß ich nicht, ob die Polizisten überhaupt auf die Idee gekommen sind, sich zu erkundigen.«
»Ich hab's gewusst«, rief Wirk triumphierend. »Ich hab's vor dir gemerkt, Sönke.«
»Das stimmt«, gab Hansen lächelnd zu, um sich gleich wieder an den Leuchtturmwärter zu wenden. »War hier vor einigen Tagen nicht ein Schiff festgekommen?«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.06.2005