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Immerhin war es vermutlich seine erste Wasserleiche, und er war zu Tete gerannt, was die Beine hergaben. »Hat Lorns auch gesagt, ob sie offen war?«
»Das hat er gesagt«, bestätigte der Polizist. »Wir hätten uns sonst gewundert, dass sie leer war, abgesehen von etwas grauem Sand. Vielleicht enthielt sie eine geleerte Schnapsflasche, die davongeschwommen ist. Eine Schlägerei unter Betrunkenen am Hafen ist ja auch nichts Außergewöhnliches.«
»Das stimmt«, gab Hansen zu und erhob sich, um dem Polizisten zum Abschied die Hand zu schütteln. »Dann ist ja fast alles erklärt.«
»Genau. Adjö, Herr Bauinspektor«, sagte der Polizist steif.
Als Sönke Hansen zum Hafen hetzte, fand er jedoch, dass überhaupt noch nichts ausreichend erklärt und schon gar nicht geklärt war. Als Letzter sprang er in das Nordmarscher Boot, dessen Schiffer es eilig hatte, zur Hafeneinfahrt zu staken, wo das tiefere Wasser begann, und er unter Segeln Fahrt aufnehmen konnte.
Im gleichen Augenblick, als der Schiffer das Schwert an -seinem Geschirr klirrend ins Wasser senkte, klärten sich in Hansens Kopf die Ungereimtheiten des Ringes.
Der Ring musste sich in der Tasche befunden haben, die sich beim Aufprall des Toten auf das Ufer geöffnet hatte. Da er offenbar unter dem Leichnam gelegen hatte, hatte der aufmerksame Wirk zwar die Tasche, aber nicht den Ring gesehen. Erst am nächsten Tag hatte er ihn bemerkt und irrtümlich angenommen, er sei mit dem Müll der nächtlichen Flut angeschwemmt worden.
Hansen schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.
»Etwas vergessen?«, fragte der Schiffer.
»Etwas Wichtiges entdeckt«, berichtigte Hansen vergnügt.
Am nächsten Morgen wanderte Sönke Hansen zur Ketelswarf, wo Mumme Ipsen wohnte, um ihm von seinem Gespräch mit dem Polizisten zu berichten. Er wollte ihm vorschlagen, einen sehr höflichen Brief an Hajo Clement zu schreiben, mit der Bitte, über die Entdeckung der Amrumer Polizei zu berichten. Ein solcher Artikel musste die Hallig entlasten.
»Wenn ich dich richtig verstehe, glaubst du doch selbst nicht, dass die Polizei Recht hat?«, erkundigte Ipsen sich mit gerunzelter Stirn.
»Nein, aber die Zwischenlösung könnte für die Hallig hilfreich sein«, beharrte Hansen.
Mumme Ipsen verschränkte die Arme und schüttelte störrisch den Kopf. »Wir rühren völlig unnötig alles wieder auf«, sagte er fest. »Und dem Clement traue ich nicht. Wer so schlecht über Porrenfrikadellen schreibt É«
Da war nichts zu machen. Auf dem Weg zurück nach Hilligenlei ärgerte sich Hansen mächtig. Er konnte nicht glauben, dass Clement wirklich wagen würde, die offizielle Lesart zweier Polizeistationen zum Tod eines Mannes zu unterschlagen. Warum also sperrte Mumme sich so?
Plötzlich fiel ihm eine andere Erklärung ein, die so simpel war, dass er über einen Stein stolperte: Ipsen konnte vielleicht nicht schreiben.Hansen war unzufrieden über den Ausgang des Gesprächs mit Ipsen und wurde obendrein noch von Gewissensbissen seinem Amt gegenüber geplagt. Abends trank er einen über den Durst, merkte es aber erst, als er eine Treppenstufe verfehlte und die Stiege unter beträchtlichem Lärm wieder herabrutschte.
Mitten in der Nacht fuhr er schweißgebadet in die Höhe. Er hatte Gerda um Hilfe schreien hören. Oder war er selbst es gewesen? Ganz allmählich besann er sich auf den Albtraum, den er gehabt hatte.
Die Leiche, deren Herkunft er untersuchen sollte, war Gerda gewesen.

Kapitel 11
Carsten Boysen hatte nichts dagegen einzuwenden, Wirk einen Tag schulfrei zu geben.
»Ist bei dir sowieso Hopfen und Malz verloren, oder weißt du mehr als die anderen?«, zog Sönke Hansen Wirk auf, als sie sich auf den Weg machten.
Wirk zuckte die Achseln und presste die Lippen aufeinander.
Hansen sagte lieber nichts mehr. Womöglich hatte Tete Friedrichsen mit seiner Bemerkung, dass Boysen sich gelegentlich an einem der Jungen die Zähne ausbisse, Wirk gemeint.
Kurz darauf stellte er fest, dass an diesem Morgen nicht nur Wirk schlechte Laune hatte. Tete Friedrichsen, der ihnen höchstpersönlich in Begleitung des Hütejungen mit einer kleinen Herde Rinder entgegenkam, wich seinem Blick mit verkniffener Miene aus und gönnte nicht einmal Wirk ein Nicken.
Da wunderte es Hansen auch nicht mehr, dass sie nach Amrum aufkreuzen mussten, und, als sie die Insel endlich erreicht hatten, sich die Einfahrt in den Fischerhafen Steenodde als versandet erwies.
Der Schiffer zog das Schwert hoch, worauf der Ewer immer wieder aus der Fahrrinne heraus und in ein Tangfeld getrieben wurde. »Das liegt nur an der neuen Siedlung auf dem Südhaken«, schimpfte er vor sich hin.
Mit der neuen Siedlung meinte er den Badeort Wittdün, für den zwei Dampferbrücken gebaut worden waren. Sönke Hansen drehte sich um und betrachtete sie. Möglich, dass sie die Strömung beeinflussten. »Leg doch einfach an der Brücke des Hotels an«, schlug er vor.
»Darf man das?«
Hansen nickte. Ein Segler lag bereits dort. »Bestimmt. Wir sind Besucher, keine Fischer.«
Kurze Zeit später setzte der Mann sie unterhalb des Badeortes ab. »Ein Glück«, sagte Hansen erleichtert, »erreicht haben wir Amrum wenigstens! Hätte mich nicht gewundert, wenn wir heute nach Föhr abgetrieben worden wären!«
»Na, so schlimm war es nun wieder auch nicht«, protestierte Wirk, der seine gute Laune endlich wiedergefunden hatte.
Fast sofort stießen sie auf Badegäste, für die Jahreszeit überraschend viele. Hansen hatte schon gehört, dass Wittdün mit Wyk zu konkurrieren versuchte, aber so lebhaft hatte er es sich nicht vorgestellt.
Die Badegäste kamen von der Hotelanlage und strebten offensichtlich zur Vogelkoje. Erstaunt betrachtete Hansen die nackten, schwarz behaarten Beine der Männer, die ihre Hosen nach neuster Mode sportlich bis über die Knie hochgekrempelt hatten. Dann wurde er von Wirk abgelenkt, der fast einen Lachkrampf bekam. Hansen folgte seinem Blick zu einer Gruppe von Damen, die modisch-fesche Strohhütchen und unterschiedliche Modelle von Matrosenkappen trugen.
»Sei nicht unhöflich, Wirk«, raunte Hansen, kurz bevor sie die Gruppe überholten, »denk daran, dass du deiner Großmutter genau diese Art von Gästen versprochen hast.«
»Solche?«, fragte Wirk entsetzt.
»Na ja, vielleicht nicht ganz«, gab Hansen zu.
Aber Wirk grüßte dann die ältere Dame mit dem lächerlichen blauen Pompon auf dem schlohweißen Häkelmützchen besonders höflich. Sie wedelte ihm mit dem Wanderstock, der bei allen der gleiche war, großzügig ihren Dank zu und betrachtete ihn entzückt von oben bis unten, bis sie mit ihrer Nachbarin zu flüstern begann.
Wahrscheinlich würde sie zu Hause im Salon zwischen silbernen Leuchtern und rotem Plüsch von einem hübschen hellblonden, wenn auch ärmlich gekleideten friesischen Knaben schwärmen, der ihr in einem kurzen Augenblick sich begegnender Seelen seine unschuldige kindliche Liebe entgegengebracht hatte. So ungefähr jedenfalls. Sönke Hansen wusste auch nicht genau, warum diese Leute bei ihm Aggressivität auslösten.
Sie passte überhaupt nicht zu ihm, fand er.
Broder Bandick, Wirks Onkel, wohnte im Leuchtturmwärterhaus auf einer Düne ganz in der Nähe des Leuchtturms. Er freute sich riesig, Wirk so unverhofft zu sehen, und zog ihn gleich in die kleine Wohnstube.
Wirk ließ es sich nicht nehmen, Sönke Hansens Anliegen zu erklären. Erst als es darum ging, den unbefriedigenden telegraphischen Wortwechsel zwischen den Polizeistationen von Föhr und Amrum zu schildern, übernahm Hansen selbst das Wort.
»Das stimmt. Den Kerl gab es. Der fiel ins Wasser und ist noch nirgends angetrieben worden«, berichtete Bandick. »Der Herr sei seiner Seele gnädig. Noch einen Lütten?«
»Aber nur einen kleinen«, stimmte Hansen zu, dem schon beim Anblick der Schnapsgläser der Schweiß ausbrach. »In Wyk behaupten sie, er wäre gefunden worden. Es handele sich um den Toten, der auf Langeness angetrieben ist. Wie sah der vermisste Mann denn aus?«
»Wie Seeleute eben so aussehen. Ein Deutscher. Einer von hier hat mit ihm geschnackt und behauptet, er wäre von Hamburg.«
»Und der Täter? Jemand hat ihn ja erstochen und ins Hafenbecken geworfen.«
Der Leuchtturmwärter schwenkte abschätzig seinen Kopf, der ziemlich massig war. Trotzdem sah er seinem Vater Nummen sehr ähnlich. »Über den ist nichts bekannt«, meinte er. »Aber es ist ja auch kein Wunder. Jeden Tag Dampfschiffe mit Badeleuten und anderen Besuchern. Mit diesen neuen Hotels, Pensionen und Logierhäusern, von der grässlichen Aktiengesellschaft des Herrn Andresen gar nicht zu reden, ist manches Gelichter auf die Insel geraten. Die kommen und gehen.«
»Wer ist Herr Andresen?«
»Ein Kapitalist aus Tondern. Besitzt die Badeanlagen auf dem Kniepsand, die Strandhalle, in der für die anspruchsvollen Badeleute Konzerte gegeben werden, und in diesem Jahr noch will er eine Bahn durch die Dünen über den Kniepsand bis zum Badestrand legen lassen. Unglaublich! Na, der nächste Orkan wird den Schienen den Garaus machen.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.06.2005