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Er hob seinen Strohhut, um nicht als unhöflich zu erscheinen, und beschleunigte seine Schritte. Es ging gegen Mittag, und er musste sich beeilen, den Langenesser Ewer zu erreichen. Spätestens eine Stunde vor Niedrigwasser, hatte der Schiffer gesagt. Als er die Kate mit dem altmodischen Schild Wyker Policeystation endlich fand, war sie geschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Er entschied sich für die Hafenkneipe. Die waren meistens laut und verräuchert, aber die Fische, die sie dort dem Gast vorsetzten, pflegten frisch zu sein. Im Vernarbten Schulterblatt hatte er gelegentlich gegessen, als er wegen des Brückenbaus in Wyk gewesen war.
»Hereinspaziert, hereinspaziert!«, rief ein Mann, der aussah wie ein Preisboxer und Hansen geschäftstüchtig schon von weitem aufs Korn genommen hatte. Er winkte ausholend, hielt das im Wind an Ketten schwingende Schulterblatt des Wals fest, damit es Hansen nicht am Kopf traf, und schob ihn in die Kneipe. »Ich habe heute vorrätig: den größten -Kabeljau, den flachsten Steinbutt, die sauersten Heringe, die fettesten Makrelen, die grätenlosesten Hornhechte, das giftigste Petermännchen, den tranigsten Wal, alles vom Besten in ganz Wyk.«
Hansen lächelte belustigt. »Sie sind wohl ein neuer Wirt? Die Auswahl hört sich verlockend an. Wann macht die Polizeistation wieder auf?«
»Zwei Uhr. Sie können ganz gemütlich speisen«, sagte der Wirt zufrieden und schlüpfte an Hansen vorbei, um sich hinter den Zapfhahn an der Theke zurückzuziehen. Ungefragt begann er ein Glas Bier abzufüllen, und Hansen war es recht.
Er setzte sich, einigte sich mit dem Wirt auf Scholle mit Speck, weil diesem die Petermännchen gerade ausgegangen waren, nahm das Bier dankend entgegen und wartete gut -gelaunt ab.
Die Kneipe erinnerte ihn an die Rumboddel, abgesehen davon, dass die Wände hauptsächlich von Mitbringseln der Walfänger strotzten. Neben den Knochenschnitzereien und mehreren Harpunen war das Prunkstück ein Seehundschlitten. Aber es hatte auch die bestimmt drei Meter lange Ruderpinne eines Windjammers an die Wand dieser Kneipe verschlagen sowie den breitkrempigen Lederhut eines französischen Matrosen, beides sicherlich eher seltene Erinnerungsstücke. Hansen nahm einen Schluck Bier, zog den Ring aus der Tasche und drehte ihn nachdenklich zwischen den Händen. Nach allem, was er bisher wusste, war er selbst im Besitz eines seltenen Fundstückes.
Es sei denn, er liefe total in die Irre, und der Ring hatte mit dem Toten überhaupt nichts zu tun. Vielleicht hatte jemand von der Hallig ihn angefertigt, und er war aus dem Abfall, der in den Prielen entsorgt wurde, zufällig wieder hochgeschwemmt worden. Und er, als echter Klugschnacker aus der Stadt, vergeudete seine Zeit, um einem völlig belanglosen Gegenstand nachzuspüren. Ärger stieg in ihm hoch, den er sofort vergaß, als er den Wirt mit einem auf der flachen Hand hochgestemmten Teller zwischen den Tischen herbeisegeln sah.
Die Scholle war zu groß für die Platte, auf ihrer Haut knisterte der Speck vor Hitze, und ihr Duft ließ Hansen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er schob den Ring weit außerhalb seines Gesichtsfeldes und nahm den Fisch in Angriff.
»Wollen Sie den dazuhängen?«, fragte der Wirt und deutete mit dem Daumen an die Wand.
»Wen dazuhängen?«, fragte Hansen mit vollem Mund. »Schmeckt köstlich!«
»Das will ich meinen! Wenn ich auch nie gelernt habe, all die vielen Segel auseinander zu halten, Fische zubereiten kann ich! Ich meine Ihren Ring. Würde gut zu meinen eigenen Erinnerungsstücken passen. Bin früher auf großen Seglern gefahren. Nicht auf so lütten Dingern, wie sie hier auf Reede liegen.«
Hansen warf beiläufig einen Blick aus dem Fenster. Die kleinen Fischerboote im Hafenbecken waren mit dem ablaufenden Wasser erkennbar unter das Niveau der Kaimauer gesunken. Dahinter im offenen Wasser ankerten zwei Dreimaster. Klein, nach Ansicht des Wirtes. Auf einmal konzentrierte er sich wieder auf den Ring. Gehörte er etwa auf einen der ganz großen Segler? »Haben Sie solche Ringe schon mal gesehen?«, erkundigte er sich interessiert.
»Klar. Wer mit Stückgut nach Westindien fuhr, bekam Ringe und Sklaven zu Gesicht. Davon wurden mehr gebraucht, als man denken sollte.«
Eine verblüffende Antwort. »Sklaverei ist doch schon lange verboten«, wandte Hansen irritiert ein. »Und warum ausgerechnet so schäbige Ringe als Stückgut, wenn man mit Menschen handelt?«
Der Wirt runzelte für einen Moment die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern. »War ein gutes Geschäft«, wich er aus und hinkte davon, als hätte er schon zu viel gesagt.
Sklaven und Ringe. Hansen ließ sich die Antwort des Wirts durch den Kopf gehen. Es war ihm unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand mit solchen Ringen Geld verdiente. Die Antwort machte einfach keinen Sinn. Er musste den Wirt falsch verstanden haben.
»Noch ein Bier, bitte«, rief Hansen.
Nach einer Weile stellte der Wirt das Glas mit solchem Schwung vor Hansen, dass der Schaum überschwappte, und wollte wieder davon.
»Augenblick mal«, sagte Hansen leise. »Wegen des Ringes É«
»Ich muss in die Küche«, schnappte der Wirt.
Hansen nickte verdrossen. »Es riecht schon angebrannt.« Der Mann, der sich vor einigen Minuten noch geradezu nach einem Schwatz gedrängt hatte, schien inzwischen einen Maulkorb zu tragen. Aber der Fisch war zu gut, um sich lange mit einem solchen Widerborst aufzuhalten. Schwungvoll drehte Hansen die Scholle um die eigene Achse und machte sich über die Bauchseite her.
Als er das letzte Fett mit dem Brot aufgewischt hatte, drängte sich der Wirt wieder in seine Gedanken. Plötzlich ging ihm auf, dass der Mann wahrscheinlich am Sklavenhandel beteiligt gewesen war. Aber er war entschieden zu jung für diesen ehemals sogar vom König geförderten Geschäftszweig. Vermutlich war er auf einem illegalen Sklavenschiff gefahren; gelegentlich hatte man davon gehört, dass es so etwas gab.
Hansen beobachtete ihn verstohlen. Er hätte wetten können, dass der weit gereiste Wirt einer Hafenkneipe die Seeleute der kleinen Küstenfrachter abends mit tatsächlichen und -erfundenen Begebenheiten auf den Tiefwasserseglern, auf -denen er gefahren war, zu unterhalten pflegte. Vor allem mit blutrünstigen Geschichten über das Einfangen von Schwarzen.
Aber einem Gast gegenüber, der schon von der Kleidung her einer anderen Gesellschaftsschicht angehörte und außerdem geradewegs zur Polizei wollte, würde er nicht gerade über illegalen Sklavenhandel auspacken, auch wenn dieser der Vergangenheit angehörte.
Grimmig musterte Hansen seinen idiotischen Strohhut, der schon von weitem nach Sommergast schrie. Er beschloss, ihm bei nächster Gelegenheit auf dem Dampfer ein Seemannsgrab zu verschaffen. Das hatte er sich redlich verdient. Dann blickte er hinaus ins Hafenbecken und stellte fest, dass es höchste Zeit für ihn wurde.
Zu Hansens Glück war die Polizeistation jetzt wieder besetzt. Die Tür war offen und festgekeilt, und sein Zechkumpan saß am Schreibtisch. Der dicke Schliemann war nicht zu sehen. Das passte ihm gut.
»Moin. GibtÕs etwas Neues?«, fragte der Polizist erstaunt.
Hansen schüttelte den Kopf. »Moin. Ich bin hier, um mir die Luft der großen weiten Welt um die Nase wehen zu lassen«, behauptete er und klopfte auf die Zeitung, die er an der Promenade gekauft hatte und die noch ungelesen unter seiner Achsel klemmte. »Und von ihr zu lesen.«
»Ach so«, sagte der Polizist verständnisvoll. »Ja, Wyk ist eine Stadt, die Könige und Kaiser besuchen, und der Hallighimmel kann einem da schon mal auf den Kopf fallen. Mir ganz bestimmt!«
»Das Halligmeer wohl auch«, ergänzte Hansen scherzhaft. »Darf ich mich setzen?«
»Bitte, bitte.«
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Hansen und machte eine Kopfbewegung zum Wasser. »Der Ewer. Aber ich wollte mich trotzdem erkundigen, ob du schon etwas herausgefunden hast É Es würde die Halligleute ja beruhigen.«
Der Mann am Tisch straffte sich. »Sie. Hier in Wyk sind wir per Sie. Ja, eigentlich darf ich Dienstliches nicht weitergeben É Aber es verhält sich so, dass in Amrum Hafen ein Mann vermisst wird. Er soll ins Hafenbecken gefallen sein, wir haben telegraphischen Bescheid erhalten. Das ist er! Damit ist die Sache so gut wie aufgeklärt.«
»Tatsächlich?«
Irgendwie fühlte Hansen sich von der simplen Erklärung enttäuscht. Der Amrumer passte nicht in seine Berechnungen. »Und das Geschoss?«
Der Polizist winkte abfällig. »Das wird sich alles noch aufklären. Durch das Telegraphenkabel passen einfach nicht so viele Worte.«
Hansen ließ es auf sich beruhen und nickte verständnisvoll. »Mich interessiert noch etwas anderes. Die grüne Filztasche É Hatte der Tote sie bei sich? Ich kann mich an keine Tasche erinnern, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.«
»Dieser Lorns Friedrichsen hat sie uns ausgehändigt. Er schwor, dass der Mann sie am Leib trug, als er noch unten am Ufer lag. Im ersten Schrecken haben sie sie beiseite gelegt und dann vergessen.«
Auch Wirk hatte sie gesehen und vergessen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.06.2005