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Hansen zuckte zusammen. Es war eine eher gedankenlose Frage gewesen, aber Wirks Antwort machte ihn mit einem Schlag auf einen weiteren Aspekt der Bedeichung aufmerksam.
»Boote sind besser für die Heuernte als Pferde«, ergänzte Wirk überzeugt.
»Ich glaube, ich muss nach Föhr zum Schmied«, sagte Hansen nachdenklich.
»Ich fahre mit!«
»Du hast morgen wieder Schule.«
Wirk grummelte nur leise vor sich hin, aber Hansen hörte ihn trotzdem und schüttelte unnachgiebig den Kopf.
Aber in der Nacht erhob sich ein heftiger Sturm aus Nordost, der erst am Vormittag abflaute. Da kein Nordmarscher bei solchem Wetter ausfahren konnte, verzichtete Hansen wohl oder übel auf seinen Ausflug und folgte stattdessen am späten Nachmittag etwas ungläubig Wirks Einladung, ihn auf das Watt zu begleiten, um Wellhornschnecken zu fangen.
Mit zunehmender Entfernung von der Mayenswarf nahm Hansens schlechtes Gewissen ab, obwohl er die Zeit für Erkundigungen hätte nutzen sollen, statt sich freizunehmen.
Wirk ging rasch, sprang barfüßig über die kleinen wassergefüllten Kuhlen im harten Sand, und Hansen geriet bald ins Schnaufen. »Wir müssen uns beeilen«, rief Wirk über die Schulter zurück, »die Hünne laufen uns sonst davon!«
»Ich dachte, wir sammeln Schnecken! Und jetzt willst du plötzlich Hünne jagen?«, protestierte Hansen. »Nicht dass ich überhaupt wüsste, was das ist.«
Wirk begann auf einem Bein im Kreis zu hüpfen und lachte sich schief, bis Hansen ihn eingeholt hatte. »Hünne sind doch die Wellhornschnecken, du Dummkopf!«, schrie er und schwenkte ausgelassen seinen Korb. »Ich denke, du bist Friese!«
»Aber vom Festland«, murrte Hansen.
Der Wyker Hafen schien fast zum Greifen nah, als Wirk in einer Senke die ersten Schnecken einzusammeln begann, die emsig unter ihren großen Gehäusen kriechend zum Wasser unterwegs waren. »Wie kommt das?«, fragte Hansen staunend.
»Das Wasser wird durch den Oststurm nach draußen getrieben, und wenn er vor dem nächsten Niedrigwasser schon abgeflaut ist, schaffen es die Schnecken nicht rechtzeitig ins Wasser zurück«, sagte Wirk, sehr zufrieden, weil die Beute unermesslich groß schien. »Nur dann kann man sie zu Fuß einsammeln. Nicht alle mögen sie, aber ich schon. Und Rouwert bezahlt gut dafür, weil sie so selten sind.«
»Dann ist es ja ein Glück, dass Hajo Clement nicht in der Nähe ist. Dass jemand Schnecken isst, würde er wohl für den Gipfel des Barbarischen halten. Was ist das da draußen?«, fragte Hansen und zeigte auf eine flache Erhebung, die sich schwärzlich vom hellen Sand abhob.
»Die Austernbank. Kommt auch nur bei sehr niedrigem Wasser zum Vorschein. Eine von den Bänken, auf denen Großvater früher gefischt hat. Komm, hilf mir jetzt.«
»Ja, ja«, murmelte Hansen unschlüssig und musterte über die Bank hinweg das dunklere Wasser der Fahrrinne zwischen den Inseln und den Halligen. Er folgte ihr mit den Blicken bis zur Südspitze von Amrum. »Die Leiche hätte auch bei den Austern hängen bleiben können, oder?«
»Damals war der Wasserstand höher«, erinnerte Wirk ihn. »Und der Wind hätte anders kommen müssen.«
»Mm. Die Strömung ist vermutlich mit dem Wind gegangen, als der Tote im Wasser trieb. Im Grunde muss er von Amrum Hafen oder von einem Schiff stammen, das sich zwischen Hooge und Amrum befand. Womöglich segelte das Schiff sogar gerade in der Norder-Aue nach Wyk ein.«
Die Schneckengehäuse, die Wirk unermüdlich einsammelte, flogen mit klackerndem Geräusch in den Korb, während Hansen nachdachte. »Es sei denn, er ist von Ebbe und Flut über Stunden hin und her getrieben worden É«
Wirk richtete sich auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Ist dir schon mal ein Seehund begegnet, der von den Jägern angeschossen wurde und entkam? Und nach Tagen tot auf Land geworfen wurde? Der stinkt, kann ich dir sagen! Da bleibst du eine Schiffslänge ab von.«
»Ja, das stimmt«, sagte Hansen überrascht. »Ich bin einem begegnet. Im Gegensatz zu ihm war der Tote ganz frisch, sozusagen.« Sein Blick und seine Gedanken richteten sich auf Amrum.
»Ich weiß, was du vorhast«, sagte Wirk in leicht drohendem Ton, als wäre er von Hansen enttäuscht. »Du willst jetzt auch noch nach Amrum. Darf ich denn wenigstens dorthin mitfahren? Mutters Bruder ist der Leuchtfeuermeister.«
»Auf dem großen Leuchtturm?«, fragte Hansen beeindruckt.
Wirk nickte stolz.
»Dann muss ich mit deinem Lehrer sprechen. Es kommt nicht in Frage, dass du schwänzt.«
»Na ja, gut«, murrte Wirk und sah sich um. Mit der Hand über den Augen spähte er gegen die Sonne über das Wasser. »Wir müssen los. Die Flut kommt.«
»Schade. Ich wäre gern noch zur Austernbank gegangen«, meinte Hansen verlangend.
»Zu spät. Das Wasser kommt schnell.«
»Das weiß ich auch«, versetzte Hansen griesgrämig, schon im Laufen. Er war doch kein Badegast!
Als sie keuchend an der Halligkante anlangten, stieg Wirk das Wasser in einem ufernahen Priel bereits bis zur Brust. »Tiefer Schlick«, murmelte er schaudernd und konnte sich kaum überwinden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hansen nahm Wirk den Korb ab und zog den Jungen mit Schwung auf Land. »Ich will doch sehr hoffen, dass du mich gewarnt hättest, wenn an dieser Stelle ein Kuhkadaver läge«, sagte er entrüstet. »Auch wenn du deine Gedanken hauptsächlich bei den leckeren Hünne hast, die du heute Abend essen wirst.«
»Stimmt«, sagte Wirk, und sein Gesicht hellte sich wieder auf. »Und ja, hätte ich.«
Kapitel 10
In Wyk regnete es in Strömen, und Hansen musste sich durch schlammige Gassen hindurchkämpfen, bis er zur Schmiede kam. Bis dahin waren seine Hosenbeine schon durch und durch nass und bespritzt von den Kutschen, die bei diesem Wetter besonders schnell fuhren. Und rücksichtslos, wie die Halligfrau auf der Rüm Hart gesagt hatte.
Er fing nach diesem kurzen Aufenthalt bereits an, die Welt mit den Augen eines Halligbewohners zu betrachten. Mit -einem Lächeln auf den Lippen trat Hansen über die Schwelle der Schmiede.
Der Schmied stand an der Esse und schlug rhythmisch auf eine Stange weiß glühenden Eisens. Als es ein wenig abgekühlt war, versenkte er es in einem Bottich mit Wasser. Unter dem Zischen und ohne Hansen anzusehen, erkundigte er sich: »Welche Kutsche ist beschädigt, Ihre oder die entgegenkommende? Die Stadtväter sind wirklich zu säumig! Überall Löcher in den Straßen! Ich hoffe, es ist keine Person zu Schaden gekommen.«
Hansen schlug den Jackenkragen herunter, von einem Ohr zum anderen grinsend. »Von einer Kutsche kann nicht die Rede sein. Ich bin ja nicht der dänische König.«
»Tja, Sie haben Recht, diese Glanzzeiten, als noch Könige in Wyk Urlaub machten, kommen nicht wieder«, meinte der Schmied wehmütig und legte sein Handwerkszeug beiseite. »Womit kann ich Ihnen denn dienen?«
Statt zu antworten, reichte ihm Hansen den Ring. »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen oder selbst gefertigt?«
Der Mann betrachtete den Ring erstaunt. »In letzter Zeit habe ich zwar mehr mit Gartentoren für Logierhäuser zu tun, aber ich darf doch sagen, dass mir alle Arten von Reisefahrzeugen vertraut sind. Von Schiffen, die in der Gegend -gebaut werden, auch. Ich war früher in der Wyker Werft -beschäftigt, zuständig für Beschläge aller Art.« Mit herab-gezogenen Mundwinkeln schüttelte er den Kopf und gab Hansen den Ring zurück. »Bedauere, so etwas ist mir noch nicht untergekommen.«
»Aus der Landwirtschaft stammt er auch nicht?«
»Von den Inseln jedenfalls nicht. Ein Meister arbeitet so nicht. Und einem Gesellen, der mir ein solches Stück ablie-ferte, würde ich den Laufpass geben. Schlechtes Material, schlechtes Handwerk.«
»Das ist immerhin mehr, als ich vorher wusste«, sagte Hansen dankbar.
»Dann sind Sie sehr bescheiden, für einen Gast. Nette Abwechslung. Ich werde Ihnen eine Vermutung mit auf den Weg geben«, meinte der Schmied. »Vielleicht ist es ein Gegenstand, der aus der Not heraus gefertigt wurde. Oder die Erfindung eines Eigenbrötlers.«
»Tja, das ist natürlich eine Möglichkeit«, sagte Hansen zögernd und betrachtete einen Augenblick die wieder angefachten Flammen. Im fauchenden Lärm der Esse winkte er dem Handwerker dann nur dankend zu und verließ die Werkstatt.
Die Schmiede befand sich am nördlichen Ortsrand, und Hansen hatte ein ganzes Stück zu gehen, bis er zurück in den lebhafteren Teil von Wyk kam.
Auf der Suche nach der Polizeistation geriet er an den Strand, wo vereinzelte Badekarren für Mutige bereitstanden, die sich ins kalte Wasser wagen wollten. Aber die meisten Gäste saßen stattdessen in den neumodischen Strandkörben, die Männer hinter ihren Zeitungen, die Frauen mit einem aufgeschlagenen Bibliotheksbuch, das ihnen verstohlene Blicke auf vorübergehende, gut aussehende Mannsbilder gestattete. Die Damen waren nicht nach Sönke Hansens Geschmack, und ihre Neugier empfand er als zudringlich. Ganz anders als Jorkes Blicke, die ihn hauptsächlich wegen Gerda in Verlegenheit gebracht hatten. Die hatten ihm gefallen.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.06.2005