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Dann weiß ich, ob er oft seinen Verlauf wechselt, ob der Boden aus Schlick, Sandschlick oder Sand besteht É Die Umstände muss man kennen. In diesem Fall wäre es wichtig zu wissen, ob das Mordinstrument das Herz traf oder danebenging É«
»Wozu soll das gut sein? Er ist tot, oder nicht?«
Zweifellos. Doch hätte man nicht ausrechnen können, wie lange der Mann schon tot war, bevor er an Land trieb? Strömungen feststellen, die an dem Tag herrschten, wie schnell sie waren, woher sie kamen, einen Kreis um die Leiche auf der Peterswarf schlagen É Hansen sinnierte in die Luft. Bei einer solchen Sache musste man seines Erachtens auch ein paar mathematische Berechnungen anstellen.
Oder war er auf dem Holzweg? Hansen schüttelte den Kopf von Gedanken frei, die ihn nichts angingen, und wandte sich wieder dem Polizisten zu, der inzwischen neben dem Stammtisch stand.
Schliemann starrte gerade mit gerunzelter Stirn auf den Teller seines Untergebenen, auf dem sich Knöchelchen häuften. »Komm, Mann, der Schiffer wartet! Die Zeitung könnt ihr hier behalten«, rief er dem Wirt zu, bevor er die Gaststube mit schnellen Schritten verließ.
Der jüngere Polizist schlurfte hinterher, sich im Gehen noch den Mund abwischend.
An diesem Tag gab es Ringelgans. Dem Polizisten hatte sie geschmeckt, im Gegensatz zu Hansen, der schon den ersten Bissen tranig fand. Er winkte ihm mit dem Messer fröhlich hinterher, erleichtert, dass er mit der Polizei nichts mehr zu tun haben würde.
Von Sönke Hansens Schultern fielen Mühlsteine. Eines Verbrechens beschuldigt zu sein hatte ihn mehr belastet, als er sich eingestanden hatte, auch wenn es nur ein unsinniger Verdacht gewesen war, erfunden von einem Mann, der geglaubt hatte, ihn auf diese Weise von der Hallig vertreiben zu können.
Noch viel klarer war ihm jetzt geworden, was Gerda auszuhalten hatte. Auf einmal raste sein Herz. Anschuldigungen klebten wie Teer. Hatte er Gerda letzten Endes im Stich gelassen? Sich mit der vagen Andeutung ihres Briefchens begnügt, sie sei freiwillig geflohen?
Seine Liebe zu ihr schien plötzlich zu groß, um in den kühlen Fliesenwänden einer Halligkneipe eingesperrt zu sein. Am liebsten wäre er auf der Stelle auf und davon gegangen, um Gerda zu suchen.
Hansen ballte die Fäuste und atmete tief durch, um seine Angst um sie zu bekämpfen.
Die Tür schlug mit einem Scheppern gegen die Wand, und Tete Friedrichsen stapfte herein, ohne nach rechts und links zu sehen. Hansen folgte ihm mit grimmigen Blicken. Dieser Mann war ein unversöhnlicher, intriganter Kerl, der bis zu seinem Lebensende darauf beharren würde, dass Hansen in den Mord verwickelt war.
Ihm blieb auch seinetwegen nur übrig abzureisen. Das Vertrauen der Halligleute hatte er ohnehin verspielt. Vielleicht konnte man den Kollegen Friedrich Ross zu neuen Verhandlungen herschicken, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Vielleicht war der sogar in seiner manchmal tollkühnen Vorgehensweise der Bessere für schwierige Verhandlungen.
Hansen ließ sich von Wollesen noch einen Schnaps gegen den Trangeschmack bringen und ging dann nach oben. Viel zu packen hatte er nicht. Das konnte er am nächsten Morgen erledigen. Am Sonnabend fuhren die Halligleute zum Markt nach Wyk, und er würde mit ihnen zurückfahren.
Verabschieden musste er sich nur von Mumme Ipsen und Wirk. Schade, dass er die Frau nicht kennengelernt hatte, die ihm wegen ihrer entschlossenen Beteiligung an einer vermeintlichen Männersache so gut gefallen hatte.
Jorke. Jorke Payens.
Mit Mumme Ipsen traf er genau auf dem Stock über dem kleinen Wehl zusammen, und es stellte sich heraus, dass der Ratmann zu ihm wollte.
»Ich komme, um mich zu verabschieden, ich fahre morgen«, erklärte Hansen.
»Das habe ich befürchtet«, sagte Ipsen und hielt Hansens Hand fest. »Du wurdest mit dem Mordfall in Zusammenhang gebracht, aber glaube mir, es war nicht so gemeint. Auch von Tete nicht.«
»Von Tete war es so gemeint«, widersprach Hansen. »Er will die Bedeichung nicht, und er ist nicht wählerisch in seinen Mitteln, das Wasserbauamt von der Hallig fern zu halten.«
»Aber er ist kein unrechter Mann, wirklich nicht. Die Halligen liegen ihm am Herzen.«
Hansen stieß einen Seufzer aus. »Er ist auf dem Holzweg. Wolltest du tatsächlich zu mir, um ihn zu entschuldigen?«
»Nicht ganz«, gab Ipsen zu. »Ich habe noch einen zweiten Grund. Es geht um diese Zeitungsschmierereien. Der Gast, der sich bei Witwe Bonken angemeldet hatte, hat brieflich abgesagt wegen der Gefahren auf der Hallig. Vier Wochen Bezahlung für Kost und Logis - es trifft sie hart. Und nicht nur sie: Ich hatte gehofft, dass die Halligen in Zukunft eigene Bade- und Logiergäste haben könnten. Im letzten Jahr hatte es so gut begonnen. Aber jetzt É«
»Soll ich bei Hajo Clement vorsprechen?«, fragte Hansen betroffen.
Ipsen schüttelte den Kopf. »Zwecklos. Ich habe mich umgehört: Clement ist ein ganz fanatischer. Er ändert seine Meinung nie. Man muss es anders anfassen.«
Hansen nickte abwartend. Ipsen wälzte eine Idee in seinem grauhaarigen Kopf herum.
»Die Sache muss bis aufs Tüpfelchen aufgeklärt werden, und dann muss es in die Zeitung, aber nicht in die, für die Clement schreibt.«
»In das Sylter Intelligenzblatt«, murmelte Hansen.
»Wenn du meinst. Jedenfalls müssen die Halligen von aller Schuld freigesprochen werden. Der Haken ist: Den Föhrer Wachtmeistern traue ich nicht zu, den Mordbuben zu finden. Die können vielleicht einen Hochradfahrer einfangen, der Kutschpferde scheu gemacht hat, aber einen, der eine Kruke mit Halligbutter zu Boden geworfen hat, schon nicht mehr.«
Hansen ahnte, was jetzt kommen sollte.
»Kurz und gut«, sagte Ipsen, »du bist derjenige, der die Sache in die Hand nehmen muss. Du bist der Einzige, der den Halligen jetzt noch helfen kann. Und mit dem Vorsatz bist du doch gekommen. Andernfalls könnten wir auf den Deichschutz auch verzichten.« Ohne auf Antwort zu warten, machte er kehrt und stapfte den Weg wieder zurück.

Es war eine schwierige Entscheidung. Urlaub, um die Suche nach dem Mörder aufzunehmen, würde Hansen nicht bekommen. Kompetent fühlte er sich auch nicht. Es musste schließlich Methoden geben, mit Hilfe deren man systematisch vorgehen konnte. Nicht, dass er solche Kenntnisse den Föhrer Polizisten zugetraut hätte, da gab er Mumme Recht. Aber er hatte sie auch nicht. Und dann war da noch Gerda É
Er holte den mysteriösen Ring, den er auf den Schrank geschoben hatte, wieder herunter, drehte ihn zwischen den Händen und dachte nach.
Plötzlich knarrte seine Zimmertür, und Wirk steckte die Nase durch den Spalt. »Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich. Aber beim nächsten Mal klopfst du«, belehrte Hansen ihn. »So ist es üblich.«
Wirk grinste unbekümmert. Dann kam er ins Zimmer und bemühte sich um eine tieftraurige Miene. »Ich habe das Kraulen verlernt«, behauptete er mit dumpfer Stimme. »Es geht nicht mehr.«
»Verlernt? Das kann man gar nicht.«
»Nicht?«, fragte Wirk bestürzt.
Hansen schüttelte den Kopf.
Wirk schubberte sich mit den Knöcheln an der Wange. »Ich habe nämlich morgen den ganzen Vormittag Schule und dachte, dass du mir am Nachmittag wieder Schwimmunterricht erteilen könntest, aber da ist Niedrigwasser, und in den Priel traue ich mich wegen der Strömung nicht, so dass es erst wieder am Sonntagmorgen bei Flut ginge.«
»Hol mal Luft. Von deinem Wortschwall ist ja wohl nur die Hälfte wahr«, sagte Hansen erstaunt.
»Das mit der Schule stimmt, und wann wir Niedrigwasser haben, weiß ich wohl auch«, widersprach Wirk rasch. »Aber wenn man Kraulen nicht verlernen kann, muss ich mir etwas anderes ausdenken. Schwimmen nach deutscher Art denn?«
»Auch nicht«, sagte Hansen und schüttelte belustigt den Kopf. »Du willst ja nur, dass ich hier bleibe und den Mordfall aufkläre.«
»Natürlich! Aber Mumme Ipsen sagt, dass er nicht weiß, ob du es tun wirst. Dabei möchte Großmutter auch einen Logiergast haben. Ich habe ihr versprochen, dafür zu sorgen.« Wirk strahlte Hansen an. »Unsere Gäste sollen Austern, Pissers und Räucheraal bekommen, so viel sie wollen. Und niemals Porrenfrikadellen!«
Hansen lachte von Herzen. »Dann ist es entschieden. Wenn jetzt auch du mir zuredest wie einem lahmen Gaul, muss ich wohl doch bleiben.«
»Hat es auf der Hallig schon mal Fuhrwerke gegeben, Wirk?«, fragte Sönke Hansen. Wenn der Beschlag nicht von einem Schiff stammte, dann vielleicht von einem Wagen. Aus der Landwirtschaft, wie Nummen vermutet hatte. Es war höchste Flutzeit, und sie standen an der Peterswarf. Es zog Hansen dort hin, weil er stets das Gefühl hatte, er müsste noch mehr über die Strömungsverhältnisse erfahren.
»Mumme hat im vergangenen Jahr ein Gespann für die Heuernte vom Festland ausgeliehen«, erzählte Wirk munter. »Aber auf den Fennen klappte es nicht. Viel zu viele Priele, und dann mussten sie lange Umwege machen, weil sie nicht rüberkamen, auch nicht über hingelegte Bohlen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.06.2005