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Jürgen Rüttgers: Sieges-Küsschen von Ehefrau Angelika.

Oft verkannt: Rüttgers hat es allen gezeigt

Der Sohn eines Elektrikers zwischen Vaterlandsliebe, Augias-Stall und einem Koffer in Berlin

Von Reinhard Brockmann
Düsseldorf (WB). Jürgen Rüttgers genießt sieben Jahre nach dem Ende der Ära Kohl mit bitterem Abgang aus Bonn seinen größten Erfolg doppelt: In Düsseldorf und in Berlin.

Politisches Wohlgefühl ist für den oft Geschmähten nicht selbstverständlich: Vor kurzem, in einer Pause zwischen mehr als 150 Wahlkampfreden, versagte seine Stimme, als er kraftlos hauchte: »Es gibt auch eine Verpflichtung gegenüber dem eigenen Land.« Ein Reporter hatte ihn provoziert: Wie einer so verrückt sein könne, das total am Boden liegende Land, das nicht als Blut und Tränen bereithalte, führen zu wollen?
Als er 1998 Edelgard Bulmahn (SPD) das Wissenschaftsministerium überlassen musste, kaufte Rüttgers sich erst einmal einen gebrauchten Mercedes 180. Wenn er am 1. Juli Düsseldorfs gläsernes Stadttor übernimmt, wird das zum Präludium für Angela Merkels Einzug ins Kanzleramt.
Der Sohn eines Elektrikers hat die gleiche Volksschule wie August Bebel und das Gymnasium von Konrad Adenauer besucht. Über die Junge Union reifte der promovierte Jurist zum politischen Talent. Mit 36 Jahren zog er 1987 in den Bundestag. Vier Jahre später war er erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 1994 machte ihn Helmut Kohl (CDU) zum Chef des neu geschaffenen Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie.
Mit satten 45 Prozent verschaffte er seiner Union nach 39 harten Jahren auf den Oppositionsbänken das zweitbeste Ergebnis. Nur der vier Wochen vor der Wahl 1975 einem Herzinfarkt erlegene Heinrich Köppler hinterließ der Union 47,1 Prozent, aber nicht die Macht. Auch so brillante Köpfe wie Kurt Biedenkopf und Norbert Blüm stehen heute hinter Rüttgers zurück.
1999 übernahm er die NRW-CDU, im Mai 2000 wurde er Oppositionschef im Landtag. In dieser Zeit wurde die CDU zur stärksten kommunalpolitischen Kraft in NRW.
»Vorher sagen, was hinterher Sache ist«: Lange vor der Landtagswahl hat Jürgen Rüttgers nicht ein Deut an Zweifel aufkommen lassen, dass er mehr Arbeit, weniger Geld und allerlei Zumutungen durchziehen würde. Anders ist für ihn der Augias-Stall nicht mehr auszumisten. 110 Milliarden Euro Schulden stehen an Beginn allen Regierens - mit dem alten rot-grünen Beamtenapparat. Die Union werde nur Minister und Staatssekretäre austauschen, sagt Rüttgers allen Parteifreunden, die bei ihm seit Monaten wegen weiterer Posten bereits Schlange stehen.
Rüttgers macht sich für längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich stark. Das Ladenschlussgesetz will er lockern, die Milliarden-Subventionen für die Steinkohle bis zum Jahr 2010 halbieren.
Der seit drei Jahren »ehemalige« Pfeifenraucher schont sich und seine Umgebung nicht. Ehefrau Angelika, gelernte Kindergärtnerin, und die drei Jungens, Marcus, Lucas und Thomas Matthias, werden ihn künftig noch weniger sehen. »Meine Frau weiß, ich bin so gefusselt, dass ich ganz schnell einen 15-Stundenarbeitstag haben werde«, sagte Rüttgers, als er noch nicht wusste, dass er künftig öfter einen Koffer für Berlin benötigt.

Artikel vom 23.05.2005