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Leitartikel
Rüttgers kippt Schröder

Harakiri in Berlin:Ich oder sie?


Von Reinhard Brockmann
»Freude schöner Götterfunken« und »Harakiri«, die 1873 abgeschaffte rituelle Form der Selbstentleibung, lagen gestern schwindelerregend dicht beieinander.
Jürgen Rüttgers schaffte den von der Union seit vier Jahrzehnten ersehnten Befreiungsschlag. Die Herzkammer der Sozialdemokratie kollabierte.
Bundeskanzler Gerhard Schröder erlebte den bittersten Sonntagnachmittag im Kanzleramt, Waterloo in der »Waschmaschine«, wie die Berliner das Weiße Haus am Reichstag nennen.
Und so könnte es gewesen sein: Mit jeder Stunde wurden die Prognosen bedrohlicher. Um 16 Uhr hieß es: 44 bis 46 Prozent für die Union. Schröder will nur noch zurücktreten, hinschmeißen und denkt: Ohne mich! Nur aus dieser Verzweiflung heraus kann einer verlangen: »Ich oder sie«.
»Der Franz« dürfte »den Gerd« so gerade noch vom Rücktritt abgehalten haben. Aber mehr als 100 Tage räumte Schröder dem Rivalen offenbar nicht ein.
Die Lage für Willy Brandts Enkel ist dramatisch: Die SPD erreicht bundesweit bei der Sonntagsfrage gerade noch 28 Prozent. Jetzt die Entscheidung zu wollen, zeugt von Panik und Verzweiflung, aber nicht von Strategie.
Jürgen Rüttgers wurde gewählt nicht obwohl, sondern weil er NRW die Folterinstrumente auf den Weg aus der Krise gezeigt hat: mehr Arbeiten für weniger Geld, Kürzen auf der ganzen Linie, Schutzrechte lockern - und wenn es noch so weh tut.
18 Millionen Nordrhein-Westfalen haben die Botschaft verstanden, 80 Millionen Deutsche können das nicht anders sehen.
Ich oder sie? Schröder nimmt CDU/CSU die Kanzlerfrage ab. Der bald nur noch geschäftsführende Kanzler hat Angela Merkel persönlich geadelt.
Guido Westerwelle forderte im Interview mit dieser Zeitung, eher als anderswo, Neuwahlen im Bund nach dem Ende von Rot-Grün in NRW. Schröder und »Münte« haben sie ihm in den Schoß gelegt.
Welcher Teufel muss die Sozis reiten? Die Partei steht ohnehin vor einer schweren Richtungsentscheidung. Jetzt droht die Zerreißprobe, weil »die Berliner« nicht nur den am Boden zerstörten Landesverband NRW in die Verzweiflung treiben. Wie soll Sigmar Gabriel Christian Wulffs erste Erfolge in Niedersachen, wie soll der unbekannte Nachfolger von Heide Simonis Peter Harry Carstensen in Kiel kurz halten und welche Sozialdemokraten mögen sich an dem frischen Günter Oettinger in Stuttgart oder dem Bayerischen Löwen Edmund Stoiber reiben?
Gerhard Schröder glaubt allen Ernstes, erste Erfolge aus Hartz IV seien erkennbar. Indes: 2006 müsste alles noch viel deutlicher sein. Schröder will die Entscheidung der Bürger für oder gegen seine Agenda-Politik erzwingen.
Warum? Das machte nur Sinn, wenn die Union Milch und Honig statt Blut und Eisen versprechen würde. Nein, Schröders »Ich oder sie« ist nicht an die Deutschen gerichtet, sondern an die SPD-Linke und Franz Müntefering.

Artikel vom 23.05.2005