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Das Rätselraten ist noch groß

Beim Filmfestival in Cannes gibt es keinen klaren Favoriten auf die Palme

Von Karin Zintz
Cannes (dpa). Wenn über die Goldene Palme per »Applausometer« entschieden würde, dann hätte Wim Wenders die Nase weit vorn. Überglücklich freute sich der deutsche Regisseur nach der Galavorstellung seines Wettbewerbsbeitrags »Don't Come Knocking« über 20 Minuten lange Ovationen.

»Da fragt man sich, wie man die Leute dazu bringt, wieder aufzuhören«, sagte Wenders und tanzte sich bei der Party zu seinen Ehren die Anspannung aus den Knochen. Aber nicht die Liebe des Publikums entscheidet bei den Filmfestspielen über die Preise, sondern die Jury unter dem Vorsitz des Regisseurs Emir Kusturica.
Nach einem Wettbewerb, dessen Teilnehmerliste sich fast wie das Gotha-Adelsverzeichnis der Autorenfilmer liest, ist das Rätselraten groß. Kein Film, auch Wenders' nicht, fand bei den Kritikern ungeteilte Zustimmung. Dabei haben die in Ehren ergrauten Cannes-Routiniers wie Lars von Trier, David Cronenberg oder Jim Jarmusch solide Qualität geliefert, die später in Programmkinos ihr Publikum finden wird. Es fehlte der kreative Funke, das Wagnis oder die große Emotion, mit denen eine durch den Kino-Marathon ermattete Jury im Sturm erobert wird. Geht es nach den Wertungen in den Branchenblättern, kann sich der Österreicher Michael Haneke mit seiner französischen Produktion »Caché« (Versteckt) die größten Hoffnungen machen. Doch das verstörende Psychodrama mit den fantastischen Darstellern Juliette Binoche und Daniel Auteuil, die sich durch anonyme Videoaufnahmen ihres Hauses und ihrer Familie zunehmend bedroht fühlen, ist perfektes Kino für den Kopf, nicht für die Sinne. Auf der Suche nach dem Palmen-Träger unter den 21 Filmen in der Konkurrenz findet sich bei jedem eine Mängelliste: Einer der glamourösesten Filme in der Konkurrenz, »Where The Truth Lies« von dem Kanadier Atom Egoyan, leidet unter seiner auf Hochglanz polierten Oberflächlichkeit. Den künstlichen Bühnenstil in Lars von Triers Rassismus-Lehrstück »Manderlay« kennt man schon von dessen Vorgänger »Dogville«.
Da bleiben dann noch die klassisch erzählten, spannenden Geschichten wie »A History of Violence« des Kanadiers David Cronenberg. Doch Cronenberg ist in Cannes vorgeworfen worden, zu kommerziell zu sein. Unter den fünf Filmen aus Asien hat sich keiner zwingend für den Hauptpreis empfohlen und von »Batalla en el ciello« des Mexikaners Carlos Reygadas - mit 34 Jahren jüngster Regisseur in der Riege - bleiben nur die quälend hässlichen Sexszenen im Gedächtnis.
Als Geheimtipp gelten hingegen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien, denen mit »L'enfant« (Das Kind) wieder eine extrem realistische, bewegende Studie des Lebens am Rande der Gesellschaft gelungen ist. Schon 1999 schafften die Dardennes mit dem unscheinbaren, aber explosiven Drama »Rosetta« den Überraschungscoup zur Goldenen Palme.

Artikel vom 21.05.2005