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Schließlich war davon die Rede, dass der Tote dem Wasserbauinspektor verdächtig ähnlich sieht, und ich will sie vergleichen können.«
Toter und Verdächtiger! Hansen bekämpfte seine aufkommende Panik, um danach sogleich mit gewissem Stolz festzustellen, dass er den Abdruck der Faust ganz richtig aus dem Schlick herausgelesen hatte.
»Und wenn er beteiligt ist«, fuhr Schliemann mit verkniffenem Gesicht fort, »kann er uns vielleicht einiges erklären. Zum Beispiel dieses hier.«
Auf seiner Handfläche, die er Hansen unter die Nase hielt, lag ein kleiner metallener Gegenstand. »Ein Spitzgeschoss«, verkündete er düster. »Keine Rundkugel, nein. Ein modernes Spitzgeschoss!«
»Nein, das kann ich nicht erklären. Aber es ist einfach absurd, anzunehmen, dass dieser Mann mit mir verwechselt wurde«, sagte Hansen. »Eine Leiche, die mit einem modernen Spitzgeschoss in der Hand auf der Hallig landet, war an einem Verbrechen beteiligt. Glauben Sie nicht auch, Herr Schliemann?«
»Das muss sich erst herausstellen«, antwortete Schliemann knurrig und ging wortlos darüber hinweg, dass Friedrichsen mit störrischem Gesicht den Kopf schüttelte. »Der Tote muss nach Föhr überführt werden. Dies ist kein Fall, den man mit dem Begräbnis eines Unbekannten auf dem Halligfriedhof abschließt.«
Während der Ratmann in der Kirchenruine zurückblieb, verließen Schliemann und Hansen die Warf, der Wachtmeister unzufrieden und stumm wie ein Fisch. Aber immerhin war von Verdacht nicht mehr die Rede, und am Fuß der Warf trennten sie sich, ohne dass Hansen weitere Verhaltensmaßregeln über sich ergehen lassen musste.
Abends entdeckte Hansen in der Gaststube, dass Schliemann offenbar abgereist, während sein Untergebener zurückgeblieben war. Hansen nahm sein Bierglas mit und setzte sich zu ihm. Der junge Wachtmeister schien ihm zugänglicher für die Fragen, die er noch hatte.
»Alles, nur nicht schon wieder diese Muscheln«, sagte der Wachtmeister gerade zum Wirt, der neben ihm stand und auf die Bestellung wartete. »Nichts aus der See. Und ein großes Bier.«
»Sauerfleisch mit Bratkartoffeln«, schlug Wollesen mit stoischem Gesicht vor.
»Beim nächsten Mal musst du den runzeligen Wurmfortsatz abschneiden, damit du ihn nicht siehst«, riet Hansen freundlich. »Das Muschelfleisch selber ist vom Geschmack her noch besser als das von Blaumuscheln.«
Der Polizist schüttelte sich. »Nie wieder«, schwor er. »Muscheln mit Pimmel! Ich bin doch nicht pervers! So etwas esse ich nicht! Ich habe ja schon gesagt, dass ich die See nicht ausstehen kann!«
»Tja«, sagte Sönke Hansen teilnahmsvoll. »Eigentlich schade. Es gibt nichts Schöneres als die See, und du bist doch von hier, wie ich hören kann. Was sollst du hier denn noch untersuchen? Ich dachte, die Angelegenheit wäre für euch erledigt.«
»Das Boot! Ich soll das verdammte Ruderboot finden. Hoffentlich liegt es hoch und trocken!«
»Aha«, sagte Hansen und verschwieg ihm, dass er an die Existenz eines Bootes nicht glaubte. Schließlich war der Mann ganz umgänglich und verdiente nicht, dass er ihn entmutigte. »Was war eigentlich so wichtig daran, dass es sich um ein Spitzgeschoss und nicht um eine Rundkugel handelte?«
»Eine Militärwaffe«, murmelte der Polizist und blickte trübsinnig auf den Boden seines bereits leeren Bierkruges. »Gewehr 88. Keine Jagdwaffe.«
Beinahe hätte Hansen einen Pfiff ausgestoßen. Dieser Tote wurde von Stunde zu Stunde geheimnisvoller. Dass er in Amrum von selbst ins Hafenbecken gefallen war, konnte man getrost verwerfen. »Genehmigen wir uns noch einen? Ich lade dich ein.«
Der Schiffer, der die Leiche befördert hatte, kehrte am nächsten Vormittag mit einer Ausgabe des Sylter Intelligenzblattes zurück, das sich ebenfalls des rätselhaften Mordes angenommen hatte. Der Inhalt des Artikels sprach sich wieder einmal in Windeseile herum.
Der Schreiber war in den meisten Punkten gegenteiliger Meinung wie Hajo Clement von Föhr. Vor allem betonte er, dass nirgends an den fraglichen Küsten ein Ruderboot angetrieben worden war.
»Dann ist es eben leckgeschlagen und untergegangen«, war die Meinung der Hartnäckigen, die die Gefolgschaft von Tete Friedrichsen bildeten.
Untergegangen. Warum sollte es erst einen Toten an Land werfen und anschließend an anderer Stelle untergehen? Hörte sich nicht besonders wahrscheinlich an. Hansen, der pünktlich am Mittagstisch saß, grübelte ohne schlüssiges Ergebnis darüber nach, während er auf sein Essen wartete. Untergegangen. Irgendwie blieb das Wort in seinem Kopf haften.
Sein Blick schweifte über die Nordwestkante der Hallig. Rinder und Schafe. Und Vögel. Wirk war nicht zu sehen. Womöglich saß er ja endlich im Klassenzimmer, wohin er gehörte. Er hatte Hansen am vergangenen Tag noch stolz berichtet, dass er jetzt nicht nur nach englischer Art kraulen, sondern auch richtig schwimmen konnte. Angst unterzugehen hatte er nicht mehr.
Plötzlich fiel es Hansen wie Schuppen von den Augen. Der metallene Ring, der praktisch unter dem Toten gelegen hatte! Wieso war er an Land geworfen worden? Ein Bugsprietbeschlag, der auf See verloren ging, wäre auf der Stelle untergegangen. Dieser Ring konnte nicht von einem Schiff stammen.
Viel wahrscheinlicher war, dass der Tote ihn in der Tasche, die angeblich leer gewesen war, mitgebracht hatte. Wo war in diesem Fall der Zusammenhang zwischen dem Ring und einem vom Militär verwendeten Geschoss?
Hansen warf einen Klecks gestovten Sudden auf die Kartoffeln, schaufelte alles im Eiltempo in sich hinein und machte sich auf den Weg ans Ufer. Den Ring musste er haben, der hatte möglicherweise eine Bedeutung!
Er hatte Glück. Der Ring lag noch im Tang am Fuß der Warf. Hansen hob ihn auf und putzte ihn ab. Am wahrscheinlichsten schien ihm bei näherer Betrachtung, dass er wirklich von einem Boot stammte, aber natürlich nicht angeschwemmt worden war.
Da kam ihm die Einladung von Wirks Großeltern, die Wirk am Vortag überbracht hatte, gerade recht. Er hatte gern angenommen, insbesondere weil er Wirks Zweifel deutlich herausgehört hatte. »Wir sind nur Fischer«, hatte er gesagt. »Wirst du trotzdem kommen? Aber du bist nicht so, oder?«
Kurz entschlossen stieg Hansen auf der alten Peterswarf nach oben und jenseits wieder hinunter, um dem jetzt nicht mehr benutzten Weg zur Mayenswarf zu folgen. Unterhalb der Warf spielten zwei kleine blonde Jungen in einer seichten Pfütze mit ihren Booten. Von ihnen ließ er sich die Kate von Wirks Großvater zeigen.
Die Großmutter wusste sofort, wer Hansen war, und komplimentierte ihn umgehend in den Pesel, wo er sich an einem rot gebeizten Tisch in einen für ihn zu niedrigen Korbsessel hocken musste, um auf den Tee zu warten. Und auf Nummen Bandick.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.06.2005