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Als Sönke Hansen zum Mittagstisch nach Hilligenlei zurückgekehrt war und an dem gesondert stehenden Tisch für Hausgäste seine Suppe löffelte, betrat Tete Friedrichsen mit Clement auf den Fersen den Gastraum. Dem Nordmarscher stand ins Gesicht geschrieben, wie bedeutsam er sich fühlte, als er mit gewichtigen Schritten auf den Tresen zuging und mit dem Wirt flüsterte.
Rouwert nickte nur und deutete mit dem Daumen auf einen kleinen runden Tisch in einer Nische. Hansen bedauerte flüchtig, dass die beiden zu weit weg saßen, als dass er ihr Gespräch würde hören können. Es wäre bestimmt interessant gewesen. Über den Tresen hinweg konnte er lediglich ihre Gesichter sehen, wenn er sich reckte.
Als er beim zweiten Gang war und konzentriert einige große Gräten aus seinem Matjeshering herauszog, nahm er plötzlich wahr, dass er das halblaut geführte Gespräch zwischen Friedrichsen und Clement verstehen konnte.
Offensichtlich lenkte eine Laune der Akustik der fliesenbedeckten Wände den Schall aus der vermeintlich verschwiegenen Ecke zu seinem Tisch. Hansen vermied, mit dem Besteck zu klappern, und kaute behutsam.
Auch der Wirt schien mit gespitzten Ohren zuzuhören. Fast lautlos entnahm er einer Schieblade Besteck, um es flüchtig zu polieren und wieder zurückzulegen. Es handelte sich stets um die gleichen drei Messer.
»Es war Lorns, mein Vetter, der die Ähnlichkeit zwischen dem Toten und dem Bauinspektor entdeckte«, behauptete Friedrichsen gedämpft.
Hansens Erinnerung war anders. Aber es war ohne Bedeutung.
»Und auch wenn ich es nicht gerne sage: Es muss jemand von hier gewesen sein, der auf den Mann losging. Das war vielleicht nicht gerade freundlich, aber man muss ihm zugute halten, dass keiner von der Anwesenheit eines zweiten Fremden auf der Hallig wissen konnte.«
»Natürlich nicht«, stimmte Clement zu. Hansen konnte den Bleistift auf dem Papier kratzen hören.
»Wer auch immer es war, er hat wohl gedacht, ein gutes Werk zu tun, wenn er Hansen einen Schrecken einjagt, und dann wurde es aus Versehen ein wenig mehr. Keiner traut diesen Bauleuten vom Festland, wir haben unsere Erfahrungen. Von den Halligen verstehen sie alle miteinander nichts. Und Hansen ist geradezu unerträglich, hatte am Abend davor schon Ärger gemacht! Vom ersten Augenblick an, in dem er auf der Hallig landete, zog er das Unglück an. Unser Spökenkieker hat uns vor ihm gewarnt.«
Als Spökenkieker galt also der Kerl, der die Ähnlichkeit zwischen Hansen und dem Toten bemerkt haben wollte. Das glaubte er Friedrichsen aufs Wort.
»Ich habe den Bauinspektor selbst erlebt«, pflichtete Clement dem Ratmann bei. »Noch ein Bier gefällig?«
»Ich könnte noch eins vertragen.«
»Meinst du, dass Hansen den erstochenen Fremden treffen wollte? Ich meine, kam der vielleicht auf die Hallig, um heimlich mit Hansen zu reden?«
»Das könnte wohl sein«, antwortete Friedrichsen entgegenkommend, nachdem er sich mit mehreren tiefen Schlucken am Bier bedient hatte, das Rouwert rasch gebracht hatte. »Vielleicht wegen des Leuchtturms, den Hansen unbedingt durchsetzen will. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass es in Wahrheit um die Vorbereitung für einen Krieg geht. Ein Leuchtturm, Kriegsschiffe, Kriegsschiffhafen É Aber ich will das nicht behauptet haben.«
»Kriegsschiffe«, wiederholte Clement respektvoll und pfiff leise. »Ihr habt also den Verdacht, dass hier ganz andere Dinge eine Rolle spielen. Nationale Interessen sogar É?«
»Nationale Interessen. Genau. Ich suchte nur nach dem richtigen Wort«, behauptete Friedrichsen und fuhr beflügelt fort. »Dann wäre es ja sogar anzunehmen, dass ein dritter Fremder der Mörder ist. Keiner von der Hallig. Vielleicht waren sie beide auf der Suche nach Hansen.«
Clement klappte sein Notizbuch mit einem Knall zu, aber Friedrichsen war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Anschaulich spann er den Faden vom Ruderboot aus, in dem beide Fremden gekommen sein mussten, wie sie sich in der rabenschwarzen Nacht getrennt hatten É Und wie das Boot abgetrieben war, als die Tide kenterte É
»Ist es denn gefunden worden?«, unterbrach Clement ihn nach einer Weile, des Wortschwalls offenbar überdrüssig.
»Noch nicht«, antwortete Tete Friedrichsen. »Aber das wird schon noch.«
»Hm«, brummelte Clement. »Wer könnte denn darüber etwas wissen?«
Friedrichsen zog die Schultern hoch. »Jeder zwischen hier und Sylt«, antwortete er endlich. »Bis zur Insel Röm sogar.«
»Na ja, gut«, sagte Clement in abschließendem Ton, steckte sein Notizbuch in die Tasche und erhob sich.
Friedrichsen nickte ihm zu und wanderte mit seinem Krug zum runden Stammtisch hinüber, wo er sich zwischen drei anderen niederließ und lauthals über seine Verluste von Gras durch die Ringelgänse zu klagen begann. Wie jedermann mithören konnte, waren diese gefräßigen Tiere aus purer Bosheit hauptsächlich über das Land hergefallen, das in diesem Jahr ihm als Weide zugeteilt war. Aber Clement, der am Tresen mit dem Wirt abrechnete, tat ihm nicht den Gefallen, sich auch noch für Diebstahl durch freches Federvieh zu interessieren.
Am nächsten Morgen trafen geraume Zeit vor Niedrigwasser zwei Polizisten aus Föhr ein. Der eine war ausgesprochen wackelig auf den Beinen und hatte eine grünliche Gesichtsfarbe. Als der lebendigere der beiden beiläufig mit einer zusammengefalteten Zeitung auf den Tresen klopfte, fiel Hansen, der noch beim Frühstück saß, Clement ein.
Auf Hilligenlei hatte er nicht übernachtet, überhaupt hatte Hansen ihn am vergangenen Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen. Möglicherweise hatte er sich bei Witwe Bonken auf der Hunnenswarf einlogiert. Schließlich wäre das ein guter Ausgangspunkt, um ein Boot zu suchen, von dem man glaubte, dass es nach Osten abgetrieben war, das es vermutlich jedoch nicht gab.
Rouwert Wollesen drehte sich um und deutete mit feindseliger Miene auf Hansen.
Der beleibte und kurzbeinige Polizist stapfte um den Tresen herum, grüßte knapp mit der Hand an der Pickelhaube und stand stramm.
Hansen ergriff den nächststehenden Stuhl und zog ihn unter dem Tisch hervor. »Noch einen zweiten dazu?«, fragte er spaßhaft. »Herr Wollesen bringt Ihnen und Ihrem Kollegen sicherlich gerne auch eine Tasse Kaffee.«
»Danke, ich bin im Dienst! Polizeiwachtmeister Robert Schliemann, Wyk auf Föhr«, sagte der Mann säuerlich. »Und mein Kollege braucht keinen Kaffee, er braucht einen Spucknapf. Er ist nicht seefest.«
Hansen, der am dienstlichen Grund ihres Kommens keinen Zweifel gehabt hatte, runzelte die Stirn.
»Ich ziehe meine eigenen Beine vor«, erklärte der krank aussehende Mann und schwankte mit geschlossenen Augen vor und zurück. »Ich hasse Schiffe. Und die See.«
»Machen Sie einfach die Augen auf«, schlug Hansen freundlich vor. »Dann sehen Sie selbst, dass die Gaststube immerhin vor Anker liegt.«
»Vielleicht für einen Mann von der Hallig É«
»Das ist er nicht! Er ist der Mann, den wir suchen.«
Hansen zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete den kleinen Dicken abwartend. Offensichtlich war es ein großer Irrtum gewesen, anzunehmen, dass jedermann auf Anhieb Tete Friedrichsens Seemannsgarn als bloße Erfindung abtun würde.
»Sie sollen in einen Mord verwickelt sein, der hier auf der Hallig passiert ist. Was wissen Sie darüber?«
»Nichts, außer dass der Mann tot war. Wie kommen Sie zu der Behauptung, ich hätte damit etwas zu tun?«, fragte Hansen absichtlich ungnädig, während er über die Schulter des Wachmanns hinweg den Wirt Gläser räumen sah. Von rechts nach links und wieder zurück an den alten Platz. Die Akustik funktionierte wohl auch so herum.
»Die Föhrer Nachrichten bringen einen ausführlichen Artikel darüber.«
Der Constabler warf die Zeitung auf den Tisch.
Hansen rührte sie nicht an. »Herr Clement, nicht wahr? Ich habe ihn verärgert, weil ich keine Mutmaßungen über einen Toten anstellen wollte, von dem ich nicht das Geringste weiß. Fragen Sie Ratmann Tete Friedrichsen. Der hat eine blühende Phantasie.«
Die Polizisten verständigten sich mit Blicken. »Versprechen Sie, sich zur Verfügung zu halten, Bauinspektor?«, erkundigte sich Schliemann.
Hansen zuckte die Schultern. »Auch ich bin dienstlich hier. Sie finden mich jederzeit irgendwo. Ich bin also nicht verhaftet?«, setzte er sarkastisch hinzu.
»Noch nicht!«, antwortete Schliemann in drohendem Ton.
Kapitel 8
Auf die Zeitung, die Hansen unbeachtet liegen ließ, stürzte sich hinter seinem Rücken sofort der Wirt. »Heute Mittag gibt es Pissers«, rief er Hansen boshaft nach, während er sie aufschlug. »Nichts anderes da.«
»Nichts dagegen«, antwortete Hansen, um Wollesen die Freude an der vermeintlichen kleinen Schikane zu nehmen, und ging vor die Tür, um sich den Ärger mit der Polizei aus den Kleidern zu lüften.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.06.2005