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Blödsinn!«, schnaubte Hansen ungehalten. Hatte er nicht geahnt, dass der Kerl ihm Schwierigkeiten machen würde?
»Das zu beurteilen steht dir nicht zu«, bemerkte Friedrichsen überheblich. »Das überlass gefälligst mir und der Polizei!«
Trotzdem brauchte Friedrichsen sich nicht einzubilden, Hansen erschrecken zu können. Und von der Hallig würde er ihn auf diese leicht durchschaubare Weise schon gar nicht vertreiben. Unstrittig war jedoch leider, dass Friedrichsen als Strandvogt polizeiliche Macht besaß und seine Anordnung galt.
Breitbeinig und die Daumen hinter den Hosenträgern eingehakt, behauptete Hansen seinen Platz, betrachtete schweigend den Toten und wartete wie die anderen auch auf Lorns' Rückkehr, den Tete nach Hause geschickt hatte, um irgendetwas zu holen, mit dem man den Toten transportieren konnte.
Auf das leise Schwatzen der anderen achtete Hansen nicht. Als wäre er im Dienst am Deich, speicherte er unauffällig alle Details, die ihm auffielen. Die Kleidung des Toten war tropfnass, wie nicht anders zu erwarten war, nachdem es geregnet hatte. Viel Blut konnte nicht geflossen sein: ein sehr dünner Gegenstand war dem Mann unter der linken Schulter in den Oberkörper gestoßen worden. Mit einer solchen Verletzung ruderte man nicht über See. War er also wirklich mit einem Boot gekommen, musste er bereits tot darin gelegen haben. Hansen hatte trotzdem große Zweifel.
»Na, endlich«, knarzte Friedrichsen herrisch, und Hansen sah hoch.
Über die Weide stapfte Lorns heran, unter dem Arm das gerundete Ende eines dicken, weiß gestrichenen Brettes, während das schmalere Ende auf der Schulter eines Jungen lastete, der hinter ihm herstolperte. Offensichtlich hatte Lorns nichts Geeigneteres als das Seitenschwert eines Bootes finden können.
Ohne viel Federlesens luden die Männer den Toten auf die provisorische Trage, schnürten ihn wie ein Segel an einer Spiere fest und trugen ihn zu viert davon.
Hansen sah ihnen nach. Als er sicher sein konnte, dass keiner ihn mehr beachten würde, kniete er sich hin und betrachtete das Gras an der Stelle, an der der Tote gelegen hatte. Es war nass und niedergedrückt, aber etwas Besonderes gab es da nicht.
Doch wie er von seinem Fenster aus beobachtet hatte, hatte der Tote ursprünglich auf dem Sandstreifen unterhalb des Ufers gelegen. Er sprang hinunter und fand schnell die Stelle anhand der zahllosen Fußspuren der beiden Vettern.
Der Sand war vom Gewicht des Toten platt gedrückt worden, der augenscheinlich ursprünglich auf dem Rücken gelegen hatte. Eindrücke der vier Fingerknöchel und des Ellenbogens waren auf einigen von der zerstörten Warf abgerutschten und im Wasser aufgeweichten Kleibrocken gut erkennbar. Irgendetwas irritierte Hansen. Schließlich kam er darauf, dass die Hand des Toten zur Faust geschlossen gewesen sein musste.
Blutspuren wären im gelben Sand gut zu sehen gewesen, aber es gab keine, wie auch keine Anzeichen für einen Kampf an Ort und Stelle erkennbar waren.
Hansen richtete sich auf und warf einen Blick auf das Wasser. Im Gegensatz zu Friedrichsen war er der Überzeugung, dass der Tote mit der Strömung auf die Hallig getrieben worden war. Das Blut war vermutlich wie bei der Robbe von der See abgewaschen worden.
Neben dem Abdruck des Toten lag nicht nur Tang, sondern allerlei Unrat, der mit ihm zusammen bei höchstem Flutstand auf das Ufer geworfen worden war. Das dicke Tau stammte von einem größeren Schiff, daneben fand Hansen eine halbe Angelrute, an deren Schnur ein rostiger Haken hing, und schließlich einen eisernen Ring, der wahrscheinlich von einem Schiff stammte, vermutlich der Beschlag eines Klüverbaums.
Uninteressant. Kein augenfälliger Zusammenhang mit dem Toten.
Auf einmal wurde Hansen unbehaglich zumute. Er sah sich um. Die Männer mit dem Toten waren verschwunden. Nur die schrillen Schreie der Möwen in der Luft über ihm bewiesen, dass er nicht allein auf der Welt war. Nicht einmal von Wirk war etwas zu sehen, der sonst doch auf diesem Teil der Hallig ständig gegenwärtig schien.
Vermutungen und Gerüchte eilten mit der Geschwindigkeit eines Orkans über die Hallig. Am Sonntag und Montag war der Tote im Schankraum einziges Gesprächsthema. Sönke Hansen hörte den Männern an den anderen Tischen während des Abendessens unauffällig zu. Anscheinend war es inzwischen ausgemachte Sache, dass er in diese für die Hallig unglückliche Angelegenheit verwickelt war, ja, ihn vielleicht sogar eine Mitschuld traf. Mit ihm sprach niemand.
Mit einer endgültigen Geste schob Hansen den Teller von sich fort. Die Bratkartoffeln waren versalzen, und Appetit hatte er ohnehin nicht mehr.
Am Dienstagmorgen wanderte Hansen zum Jelf, um diesen breiten Priel im Hinblick auf eine Abdämmung genauer in Augenschein zu nehmen. Gerade legte er die mögliche Position einer Schleuse fest, als ein kleiner Segler mit zwei Personen an Bord einlief. Die Klåår Kiming von Föhr.
Aus der städtischen Kleidung und der Neugier, die der junge Mann, der am Niedergang lehnte und in alle Richtungen spähte, an den Tag legte, schloss Hansen, dass er ein Passagier war, der noch nie auf der Hallig gewesen war.
Mit Brille und einem schmalen Bart, gab der Besucher sich als Intellektueller. Was der wohl hier wollte? Hansen verfolgte, wie der Schiffer ihm am Steg der Kirchwarf von Bord half und sofort wieder ablegte.
Der Mann stürmte umgehend auf Hansen zu. »Hajo Clement von den Föhrer Nachrichten«, stellte er sich vor. »Kannst du mir sagen, wo sich die Warf Hilligenlei befindet? Es soll auch dein Schaden nicht sein, wenn du mich auf dem kürzesten Weg zum Bauinspektor Sönke Hansen von Husum führen könntest. Er ist als Gast hier. Du kennst ihn doch, nehme ich an?«
Hansen musterte Clement kühl. Zwar war er an diesem sonnigen Morgen wie jedermann nur im langärmeligen weißen Hemd und einer Hose, die von breiten Hosenträgern gehalten wurde, unterwegs, aber es gab keinen Grund, Halligleute wie Knechte zu behandeln. »Moin, erst mal. Wenden Sie sich an Oberdeichgraf Baron von Holsten in Husum«, sagte er abweisend. »Über die Pläne der preußischen Regierung zum Schutz der Hallig gibt nur er Auskunft.«
Clement riss sich seine Nickelbrille von der Nase, um Hansen genauer in Augenschein zu nehmen. Auf seinem Gesicht erschien ein verlegenes Grinsen. »Entschuldigung«, sagte er lahm. »Ich hab Sie wohl falsch eingeschätzt. Mich interessieren keine Pläne zum Schutz der Hallig, ich bin hier wegen des Mordes. Sie selbst sind der Bauinspektor?«
»Ja. Aber bei mir sind Sie trotzdem falsch«, wandte Hansen mürrisch ein. »Strandgut und fremde Leichen verwaltet Tete Friedrichsen. Er ist der Strandvogt von Nordmarsch.«
»Nein, nein«, widersprach Clement eifrig und setzte die Brille wieder auf, »es hat sich herumgesprochen, dass der Mord mit Ihnen zu tun hat, eine Verwechslung oder so etwas. Sie sollen gemeint gewesen sein, weil die Pläne des Wasserbauamtes den undankbaren Halligleuten nicht passen, hört man. Unsere Leser, zu denen illustre Badegäste aus aller Welt zählen, sind begierig, aus allererster Hand zu erfahren, wie das alles zusammenhängt. Bitte, gönnen Sie ihnen ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit!«
Sprachlos vor Verwunderung verfolgte Hansen, wie der Journalist es sich auf dem niedrigen Sommerdeich neben dem Priel bequem machte, aus der Jackentasche Bleistift und Notizblock hervorzauberte und sich auf den Knien zurechtlegte. Dann sah er durch seine Brille, die wahrscheinlich nur aus Fensterglas bestand, tatendurstig zu Hansen auf. »Es kann losgehen.«
»Nein«, sagte Sönke Hansen fest, der sich inzwischen von seiner Überraschung erholt hatte, legte die Hände auf den Rücken und ging entschlossenen Schrittes davon.
Nach kurzer Zeit hörte Hansen hinter sich Laufschritte. Hajo Clement überholte ihn und verstellte ihm mit ausgebreiteten Händen den Weg.
»Das können Sie mit uns nicht machen, Bauinspektor!«, rief Clement in einem Ton, der Unglauben und Entsetzen über Hansens Dreistigkeit signalisieren sollte. »Sie unterschätzen die Macht einer modernen Gazette! Ihr Vorgesetzter wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn wir uns genötigt sehen, von Ihnen und Ihrem Amt Ungünstiges zu berichten. Was wir nicht möchten, nein, ganz und gar nicht.«
»Über mich können Sie nichts Ungünstiges berichten. Ich habe mit dem Mord nichts zu tun und das Amt auch nicht. Guten Morgen, Herr Clement.« Hansen tippte mit einem Finger an die Stirn und setzte seinen Weg fort.
Er war erleichtert, als Clement keinen weiteren Versuch machte, ihn zu belästigen. Im Wasserbauamt war seines Wissens nur ein einziges Mal ein Zeitungsschreiber gewesen, und ihm hatte der Oberbaudirektor Rede und Antwort gestanden. Noch im Nachhinein war er dafür dankbar, obwohl es um den Bau der neuen Landungsbrücke von Wyk gegangen war, wo er derjenige war, der sich in den Details bestens auskannte.
Aber so leicht ließ sich ein Hajo Clement nicht abschrecken. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.06.2005