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Wie weit könnte man bei gutem Wetter denn sehen?«, erkundigte sich Hansen.
»Ein, zwei Meilen westlich der Südspitze von Amrum.«
Hansen nickte. Vermutlich war von dieser Position außer dem Feuer von Amrum kein anderes zu sehen. Kampen und List waren zu weit weg, und nach Süden hin gab es überhaupt keine Leuchttürme. Ohne Kreuzpeilung konnte da ein Schiff schon mal festkommen. Ganz klar, dass ein Leuchtfeuer auf Nordmarsch von großem Nutzen sein würde. Aber er hütete sich, dieses Thema ein zweites Mal anzuschneiden. »Ich habe noch eine Frage. Gibt es auf dem Watt wirklich immer noch Süßwasserquellen?«
Wollesen schob das Teleskop zusammen. »Oh, ja. Aber sie versiegen allmählich. Die zuverlässigste ist noch die im Norden, an der Grenze zwischen Nordmarsch und Langeness. Unser Fething hier wird auch von Süßwasser gespeist, gleich von drei Quellen. Es gab noch eine vierte, aber die mussten wir dichtmachen, als sie nur noch Salzwasser lieferte. Unser Fething ist der einzige auf Nordmarsch, der über Frischwasser angelegt wurde.«
Hansen nickte und hörte die Tür hinter dem Wirt ins Schloss fallen, der grußlos ging. Vor Rixwarf lag am Steg der Segler, der am Morgen gekommen war. Immer noch dachte er mit Erleichterung daran, dass er sich eine überaus peinliche Situation erspart hatte. Und er dachte an einen Jungen, der auf seine Weise ähnlich beschlagen wie der Lehrer war, was die Hallig anging.
Der Sonntagmorgen begann grau, und es nieselte. Sönke Hansen setzte sich mit seinem Notizbuch an den kleinen Tisch am Fenster und fasste schriftlich zusammen, was er bisher unternommen hatte und was dabei herausgekommen war.
Viel war es nicht. Ärgerlich vor allem war, dass er durch die völlig unnötige Erwähnung eines Leuchtturms alle schon sichtbaren Erfolge zunichte gemacht hatte. Baron von Holsten würde schnurren wie ein zufriedener Kater, wenn er mit diesem Ergebnis zurückkehrte.
Das kam nicht in Frage.
Hansen schlug das Büchlein zu und öffnete den Fensterflügel. Es tropfte vom Reet herab, aber das Nieseln hatte inzwischen aufgehört, und über Hooge, wo das schlechte Wetter herkam, war der Himmel hell geworden.
Zur anderen Seite, über Amrum, stand noch eine schwarze Wolkenwand. Am Halligufer fesselten zwei Gestalten seine Aufmerksamkeit, die an der Abbruchkante der Alten Peterswarf hinunter- und wieder heraufkletterten, ohne dass er erkennen konnte, was sie da so geschäftig betrieben.
Er beschloss, einen kleinen Spaziergang am Ufer entlang zu machen. Das Büchlein mit den peinlich mageren Ergebnissen schob er unter seine Wäsche in der Kommode. Eilig klapperte er die Stiege hinunter, wo er im Flur auf den Wirt traf, der mit gerunzelter Stirn und offenbar unzufrieden Plattfische in einem Fischkasten zählte.
»Oh, gibt es heute Mittag Butt?«, erkundigte sich Hansen erfreut.
»So ähnlich«, knurrte Wollesen. »Für Hausgäste gibt es Buttermilchsuppe.«
Hansen holte tief Luft. Er fühlte sich wie ein Schüler, der zur Strafe in der Ecke stehen musste.

Die beiden langen Gestalten am Rande der Alten Peterswarf waren unverkennbar Tete und Lorns Friedrichsen. Tete beugte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln über etwas, das im Gras lag. Zwei andere Männer eilten über eine Fenne heran. Irgendetwas Ungewöhnliches ging vor.
Hansen spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, abzubiegen und besser auf Mayenswarf zuzuhalten, aber dann entschloss er sich anders. Gesehen hatten sie ihn schon, und er wollte nicht, dass später jemand behauptete, er hätte vor den Friedrichsenvettern Angst gezeigt.
Tete Friedrichsen richtete sich auf. »Dies ist nichts für Fremde!«, schrie er durch die zusammengelegten Hände. »Verschwinde!«
Zu spät, dachte Hansen entschlossen.
»Das ist meine Anweisung als Strandvogt!«, brüllte Friedrichsen.
Hansen schüttelte den Kopf und stieg unbeirrt zwischen Mauerresten und Kleibrocken über den Warfabhang, obwohl Friedrichsen die Zähne bleckte.
Aber er dachte gar nicht daran, sich auf diese Weise einschüchtern zu lassen. Wenn er die Robbe, oder was immer es war, besichtigen wollte, würde er es tun.
Als er bei den Vettern anlangte, erschrak er. Nicht eine Robbe, sondern eine männliche Gestalt lag auf dem Bauch im Gras.
Möglicherweise war Friedrichsen wirklich berechtigt gewesen, Hansen zurückzuschicken. »Ich weiß, wie man wiederbelebt«, verteidigte er sich lahm. »Deswegen dachte ich, ich sollte besser kommen É«
»Auch bei Leichen?«, fragte Friedrichsen höhnisch.

Kapitel 7
H
ansen registrierte jetzt erst, dass der Mann tot war. »Du liebe Zeit«, murmelte er betroffen. Und hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass er gestern zufällig über eine Leiche im Schlick nachgedacht hatte.
»Du liebe Zeit? Schiet ist das!«, stieß Friedrichsen aus. »Als Strandvogt hatte ich noch nie mit einer Leiche zu tun! Ein Boot oder verloren gegangene Ladung lasse ich mir gern gefallen, aber keinen Toten!« Wie um seinen Missfallen zu bekunden, stieß er den Mann mit der Schuhspitze an.
Hansen bemerkte, dass die Stiefel des Toten von guter Qualität waren, grau von Salz, aber ordentlich besohlt und ohne Kratzer und einst blank gewienert, als hätte seine Petrine Godbersen sie in der Hand gehabt.
»Wir müssen sein Boot suchen!«, befahl Friedrichsen mürrisch.
»Meinst das?«, fragte einer der Nordmarscher, die Hansen beide unbekannt waren, erstaunt.
»Wie soll er denn sonst hergekommen sein?« Friedrichsen gab sich abschätzig. Er war der Strandvogt, es war seine Entscheidung, und er kehrte beides deutlich hervor.
Der andere kaute schweigsam auf der Unterlippe. Überzeugt war er nicht, genauso wenig wie Hansen. »Wenn er im Boot gekommen wäre, wäre er nicht ertrunken«, bemerkte Hansen.
»Ertrunken!«, schnaubte Tete Friedrichsen, und etwas gnädiger wandte er sich an seinen Vetter: »Dreh ihn mal um, Lorns.«
»Klar, Tete.« Pietätlos, als hätte er es mit einem Schlachtschwein zu tun, packte Lorns an der Jacke an und warf die Leiche um die eigene Achse.
»Da«, sagte Friedrichsen und zeigte auf einen ringförmigen Flecken in der Jacke, in dessen Mitte sich ein Schnitt befand. »Den hat jemand erstochen. Der war bestimmt sofort tot. Das ist hier passiert.«
»Bestimmt«, echote sein Vetter.
Woher wollen sie das wissen, fragte sich Hansen. Sicher war nichts, bevor es überprüft war.
»Was machen wir mit dem Kerl, Tete?«, erkundigte sich Lorns.
Tete beachtete seinen Vetter nicht. Er lutschte an seinen Zähnen, während er sich den Anschein gab nachzudenken.
Einer der anderen beiden Männer holte so plötzlich und geräuschvoll Luft, dass er Hansens Aufmerksamkeit auf sich zog. Für einen Augenblick war er überzeugt, der ihm bislang unbekannte Mann hätte den Toten erkannt.
»Der Herr bewahre mich«, brach er fromm aus. »Der sieht ja aus wie du, Hansen! Denn der bist du doch: Sönke Hansen!«
»Natürlich bin ich Hansen«, murmelte er abwesend. Ihn beschäftigte Friedrichsens These, dass der Tote mit dem Boot gekommen sein musste. Seiner Ansicht nach gab es dafür nicht den geringsten Anhaltspunkt, aber er würde sich mit dem Mann darüber nicht streiten.
»Wie Hansen?« Friedrichsens Ton war, wie fast immer, verächtlich.
»Genau. Wie Hansen.«
Dass sein Name so beharrlich fiel, holte Hansen plötzlich aus seinen Gedanken. Aber noch bevor er sich den abstrusen Vergleich verbitten konnte, baute sich Friedrichsen mit selbstgerechter Miene vor ihm auf und musterte ihn wie ein Pferdehändler.
Friedrichsen schien der Hinweis aus irgendeinem Grund zu gefallen. »Das stimmt! Das lange Haar - ich würde meinem Jungen ja die Ohren lang ziehen -, die teuren Lederstiefel und die Jacke mit den blanken Kapitänsknöpfen. Alles wie bei Sönke Hansen auch.«
»Und er liegt auf deiner Warf, Lorns, um die es gestern ging É«
Der Mann verstand es, Worte in die Köpfe sickern zu lassen. Eine Unverschämtheit, ihn auf diese Weise mit einem Toten in Zusammenhang zu bringen, fand Hansen und bedauerte plötzlich, hergekommen zu sein. Für einen winzigen Augenblick erwog er die Möglichkeit, dass Lorns, der ja geradezu an den Lippen seines Vetters hing, die Hände im Spiel haben könnte. Aber dann blickte er ihm in das ratlose und nicht besonders kluge Gesicht und verwarf den Gedanken. »Der Tote ist eine Wasserleiche. Der ist hergetrieben! Wie könnte er da mit mir verwechselt worden sein?«, fragte er erbost in die Runde.
Aber er schien für die anderen Luft zu sein.
»Ich werde die Polizeiwachtmeister auf Föhr benachrichtigen«, sagte Friedrichsen mit verkniffener Miene, »und dich, Bauinspektor, muss ich als Ratmann und Strandvogt auffordern, dich zur Verfügung zu halten! Ein Mann, der in einen Mordfall verwickelt sein könnte, muss gegenüber den Polizeidienern seine Aussage machen!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.05.2005