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Mit einem Mal ging Hansen auf, wer der Mann war: der Besitzer der alten und der neuen Peterswarf. Lorenz Friedrichsen, der Mann, den der Lehrer erwähnt hatte, Vetter von Tete Friedrichsen. Dieselbe Gesinnung, derselbe Genuss am Verhindern von Regierungsplänen.
Sich nach dem Besitzer der zerstörten Warf nicht erkundigt zu haben war ein Versäumnis, das Hansen um den Ertrag seiner Arbeit bringen konnte. Mit versteinertem Gesicht wischte er seine Zeichnungen von der Tafel.
Währenddessen begann die Versammlung sich aufzulösen. Niemand gönnte Hansen noch einen Blick.
Eine kleine Gruppe von Männern blieb zurück, Hansen musste gar nicht erst hinsehen, um zu wissen, wer sie waren. Tete orderte lauthals eine Lage. Als jeder einen frisch gefüllten Bierkrug vor sich hatte, hob er seinen eigenen wie eine Trophäe in die Höhe und prostete allen zu.
»Gut gemacht, Tete!« und ähnliche Sprüche kamen aus der Runde.
Ohne sich zu Hansen umzudrehen, tönte Friedrichsen: »Ich schlage vor, dass du dich jetzt verpisst, Klugschieter Hansen. Wir möchten unseren Sieg über die Preußen ungestört feiern. Am besten, du verschwindest von der Hallig!«
Hansen verließ die Gaststube grußlos.

Kapitel 6
Sönke Hansen fühlte sich behandelt wie ein Aussätziger. Sogar der Wirt, dessen Gewerbe es war, mit jedermann gut auszukommen, mied ihn. Als er die Gaststube zum Frühstück betrat, verschwand Rouwert in die Küche, und an seiner Stelle brachte ein mürrisches junges Mädchen Hansen einen wässerigen Kaffee. An diesem Morgen entfiel auch die Wahl der Eierart. Anscheinend hatten weder Hühner noch Möwen gelegt.
Lehrer Boysen hielt Unterricht, mit ihm konnte Hansen sich nicht beraten. Vorausgesetzt natürlich, dass Boysen überhaupt dazu bereit gewesen wäre. Schließlich war auch er ein abhängiger Mann, abhängig vom Wohlwollen der Eltern, die ihn bezahlten, und des Ratmannes.
Unschlüssig, wie es weitergehen sollte, bummelte Hansen an die Westkante der Hallig. Dort war es angenehm einsam, gerade richtig zum Nachdenken. Und nach dem Sturm war es wieder sommerlich heiß geworden, obwohl noch nicht einmal alle Bäume auf den Warfen ihre Blätter voll ausgebildet hatten. Er sah die Segel eines Bootes, das auf Rixwarf zuhielt, während er über die Gräben sprang, und bekam Lust zu schwimmen.
Zwar würde erst am frühen Nachmittag Hochwasser sein, aber der Priel, der an der Alten Peterswarf vorbeilief, führte genug Wasser. Kopfüber stürzte er sich wenig später in die See, um sich so richtig die Verärgerung aus dem Leib zu kraulen. Mit dem auflaufenden Strom kam er schnell vorwärts.
Plötzlich bemerkte er, dass er sich fast querab der Rixwarf befand und es Zeit war, umzukehren. Erst als er kaum vorankam, merkte er, auf was er sich eingelassen hatte. Der Strom setzte hart. Auch für ihn als geübten Schwimmer.
Aber er konnte unmöglich bei der Rixwarf aus dem Wasser steigen und in Sichtweite von Hilligenlei splitterfasernackt über Land zu seinen Kleidern zurückwandern. Ein Inspektor des Wasserbauamtes bei helllichtem Tag im Adamskostüm wäre ganz bestimmt nicht die richtige Person, um die Halligen vor Stürmen und preußischen Beamten zu retten. Zumindest nach Meinung einiger bestimmter Personen.
Hansen biss die Zähne zusammen und kraulte mit aller Kraft zurück.
Schwer atmend ließ er sich geraume Zeit später in den Sand unterhalb der Uferkante fallen.
»Warum schwimmst du wie ein Hund?«, erkundigte sich eine leise Stimme.
Hansen hob vergrätzt den Kopf und starrte mit zusammengekniffenen Augen hoch. Er war so ausgepumpt, dass er auf seine Umgebung nicht geachtet hatte. »Und warum bist du nicht in der Schule?«
»Wenn du dich wie ein Lehrer benimmst, mag ich dich nicht leiden«, sagte Wirk gekränkt.
»Weil ich dich darauf aufmerksam mache, dass du dich im Unterricht befinden müsstest? Dass du schwänzt, sieht ja wohl jeder!«
Wirk zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Das meinte ich nicht. Du hast eine Frage mit einer Frage beantwortet. Nein, nicht beantwortet. Bloß geplappert. Du willst es ja gar nicht wissen.«
Hansen betrachtete den Jungen, immer noch wütend, aber nachdenklich. Er musste zugeben, dass Wirk Recht hatte. Bei Licht besehen, hatte er selber seine Verärgerung an ihm ausgelassen. »Ich kraule. Das ist eine neue Schwimmtechnik, die aus England kommt. Weißt du, wo England liegt?«
Wirk ließ Hansen nicht aus den Augen, während sein ausgestreckter Arm signalisierte, dass England weit, weit hinter Amrum läge.
»Das stimmt«, sagte Hansen bedächtig. Offenbar hatte er Wirk bei ihrer ersten Begegnung falsch eingeschätzt, obwohl Gerda ihm hinreichend von Kindern erzählt hatte, die im normalen Unterricht durch den Rost fielen, weil sie anders waren, als Erwachsene es erwarteten.
»Ich kann nicht schwimmen«, teilte ihm Wirk mit.
Die Gleichgültigkeit, die der Junge an den Tag legte, war zweifellos gespielt. »Soll ich dir das Kraulen beibringen?«, fragte Hansen zu seiner eigenen Überraschung.
»Kraulen?« Wirks blaue Augen blitzten auf. Aber dann verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Meinst du wirklich, ich könnte es lernen?«, erkundigte er sich unsicher, und auf einmal war auch zu hören, dass er stotterte.
»Das kann jeder«, antwortete Hansen. »Auch du.«
»Jeder soll es nicht können. Nur ich.«
Sönke Hansen verstand plötzlich. Irgendetwas arbeitete in Wirk. »Komm«, sagte er einfach und stemmte sich hoch. »Ich zeige es dir.«

Wirk war ein magerer, aber zäher Bursche. Hansen fror schon erbärmlich, aber Wirk gab nicht auf. Er ging unter, verschluckte sich und machte den nächsten Versuch. Und dann war es plötzlich, als hätte das Wasser sich entschlossen, ihn zu tragen. Es gelang ihm, Arme und Beine einigermaßen zu koordinieren, und er blieb an der Oberfläche.
»Ganz hervorragend«, hackte Hansen heraus. »Du hast es schneller gelernt als ich. Der Rest ist Übung. Aber jetzt komm, ich friere mir gewisse Körperteile bereits ab.«
Wirk sah den betreffenden Körperteil an und grinste zurückhaltend. Plötzlich entdeckte er an sich selbst den gleichen Beweis von Kälte. Sie brachen zugleich in ein unbändiges Gelächter aus und galoppierten im seichten Wasser zum Ufer zurück.
»Ich bin froh, dass ich jetzt nicht mehr mit den Füßen auf den Grund muss«, sprudelte Wirk heraus, als er sich angezogen hatte und in der Sonne aufwärmte.
Vom Stottern war im Augenblick nichts zu hören. Hansen wartete darauf, dass Wirk erklärte, was er meinte.
»Manchmal werden große Gegenstände unter Wasser festgehalten, sogar tote Tiere. Ich stelle mir immer vor, ich trete in den fauligen Bauch einer Kuh, die sich aufs Watt verlaufen hat und dann im Schlick stecken geblieben und ertrunken ist.« Wirk schauderte.
»Gibt es das?«, fragte Hansen etwas ungläubig und konnte das Unbehagen des Jungen voll und ganz verstehen.
»Ganz bestimmt sogar. Rinder kommen manchmal abhanden, und man findet sie nicht mehr. Nur ihre Fußspuren im Schlick. Ich glaube, sie riechen das Frischwasser, das aus den alten Quellen kommt.«
»Schaurig«, sagte Hansen aus vollem Herzen und verkniff sich die makabre Bemerkung, dass da ja auch ein Mensch liegen konnte. »Da würde ich überhaupt nicht schwimmen wollen. Nicht einmal, wenn ich eine Feder wäre!«
»Nicht wahr?« Wirk schien sehr befriedigt von Hansens Antwort. »Die anderen lachen mich immer aus, wenn ich davon spreche.«
»Ihnen fehlt die Vorstellungskraft.«
»Mm«, murmelte Wirk, und Hansen war nicht ganz klar, ob er ihn richtig verstanden hatte. »Das mit dem Lehrer nehme ich zurück. Du trägst ja auch keinen Bart. Ein Lehrer kannst du gar nicht sein.«
»Ich nehme meine Frage auch zurück«, erklärte Hansen feierlich und hielt Wirk die Hand hin, die dieser mit ernstem Gesicht schüttelte.
Als Sönke Hansen nachmittags aus dem Fenster blickte, um aus der höheren Position nach dem Wetter zu schauen, entdeckte er Rouwert Wollesen vor seiner Tür, der konzentriert durch ein Fernrohr auf See blickte. Hansen folgte der Richtung des Rohres und suchte den Horizont ab, aber er konnte nichts erkennen.
Neugierig stieg er die Treppe hinunter und stellte sich draußen neben den Wirt, der von seiner intensiven Inspektion der See nicht abließ. »Was Besonderes da draußen?«, fragte Hansen.
»Ein Fischer will gestern Nacht einen Tiefwassersegler gesehen haben, der auf Schiet geraten war. Das war aber nur einer von Hooge, deswegen weiß man nicht so genau, ob er sich nur wichtig machen wollte É«
Hansen lächelte unwillkürlich. An die Nadelstiche der Halligleute gegen die der Nachbarhalligen hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Sie gehörten einfach dazu und waren nicht ernst gemeint.
»Bei dem Wetter ist es meistens zu diesig, um viel zu erkennen. Oder er liegt weiter draußen«, meinte Wollesen. »Oder er ist schon wieder freigekommen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.05.2005