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Blutbad unter Leichen überlebt

Usbekischer Menschenrechtler berichtet aus dem Chaos von Andaschan

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Mit einer Kugel im Rücken und unter den toten Körpern anderer Geiseln hat Kodir Ergaschev das Massaker von Andaschan überlebt. Der Bericht des Menschenrechtlers durchbricht die Pressezensur:
Schwer verletzt im Kreise seiner Familie: Der Menschenrechtler Kodir Ergaschev überlebte unter den Leichen anderer Geiseln. Foto: IGFM

Am Freitag vor einer Woche starben im Osten Usbekistans mehrere hundert Menschen, bis heute gibt es kein vollständiges Bild. Die Journalistin Galima Bucharbajewa setzte einen Bericht aus dem vom Präsident Islam Karimow mit harter Hand geführten Polizeistaat ab. »Sie schossen um sich, ohne zu zielen« beschrieb sie Soldaten, die eine friedliche Demonstration in Andaschan in ein Blutbad verwandelten, wie am 17. Mai berichtet.
Jetzt erreichte die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt der Bericht ihres örtlichen Mitarbeiters Kodir Ergaschev. Er beschreibt Ergebnisse am Tag nach dem »schwarzen Freitag« und der Befreiung von 1000 Häftlingen durch Aufständische.
»Um Mitternacht am 13.Mai bin ich vom Urman Ismailov, einen der Insassen des Gefängnisses ÝU Ja 64 / T 1Ü angerufen worden. Unsere Gruppe betreut diesen Gefangenen. Er sagte, um 23.30 Uhr hätten mit Maschinengewehren bewaffnete Männer, die sich Akromisten nannten, das Gefängnis gestürmt«.
Akromisten leitet sich ab vom Namen Akrom Juldashev, der wegen eines Buches 6 Jahre in diesem Gefängnis saß. Er gilt als Führungsfigur 23 muslimischer Geschäftsmänner, deren Prozess die schweren Unruhen im dicht besiedelten Ferganatal auslöste.
IGFM-Mann Ergashev schreibt weiter. »Am Gefängnisausgang verlangten die Bewaffneten von den Häftlingen, sie sollen Gewehre mit je zwei Magazinen mitnehmen.« Aufständische und eine große Zahl von befreiten Gefangenen besetzten daraufhin das Gebäude der verhassten Gebietsverwaltung.
Der Menschenrechtler und sein Stellvertreter, der IGFM-Anwalt Agtigali Rachmatov, baten am folgenden Samstag in das besetzte Gebäude vorgelassen zu werden, um die Anführer des Aufstandes sprechen zu können. Dabei zeigten sie ihre Ausweise vor und verwiesen darauf, die nunmehr befreiten Häftlinge bislang betreut zu haben. Allgemeines Chaos und unklare Befehle führten dazu, dass die beiden Unterhändler gemeinsam mit 40 Polizisten, Feuerwehrleuten und anderen Beamten gefesselt und festgesetzt wurden. Gegen 18 Uhr begann ein leichter Gegenangriff der Regierungstruppen. Geiseln in Uniform mussten sich als lebende Schutzschilde in die Fenster stellen.
Man entschloss sich, abzurücken und die Geiseln als Schutz zu gebrauchen. Dazu wurden alle Männer mit einem Seil um den Hals zu einer Kette aneinander gebunden.
»Wir wurden mitten auf der Straße geführt und von Akromisten bewacht, die Maschinengewehre und Molotow-Cocktails mit sich trugen, die in der Chemiefabrik hergestellt worden sind«, berichtet Ergaschev. Daneben lief die aufgebrachte Menge. Die Rebellen beschimpften die Geiseln als Unterdrücker prügelten auf sie ein. »Einem von uns haben sie ins Bein geschossen, so dass er das Tempo nicht mithalten konnte und das Seil, mit dem wir miteinander verbunden waren, an unseren Hälsen spannte.«
Ergaschev berichtet weiter: »Als wir die Berufsschule fast erreicht hatten, lies man uns anhalten. Am Anfang unseres Zuges waren die Angestellten der Miliz, dann der Feuerwehr, dann des Dienstes für Außerordentliche Angelegenheiten, Soldaten, hinter uns zweien folgten Angestellte der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und anderer Behörden. Als plötzlich vor uns Regierungssoldaten auftauchten und uns und der Menge sagten, wir dürften nicht weiter gehen, blieben wir, die Geiseln, stehen. Die Akromisten schossen auf uns und wir warfen uns auf die Straße, um unser Leben zu retten. Soldaten und Aufständische schossen aufeinander. Dabei wurden fast alle Geiseln getötet. Ich habe nur überlebt, weil ich als erster zu Boden gegangen bin, und andere auf mich gefallen sind. So habe ich von 19 Uhr bis 7 Uhr des nächsten Tages unter Leichen gelegen.«
Der Augenzeuge sah 220 Erschossene. In dem Gemetzel starb auch sein Kollege Rachmatov.
Der vierseitige Augenzeugenbericht, der dieser Zeitung vorliegt, endet: »Als wir ins Krankenhaus gefahren wurden, konnten wir immer noch Schüsse in verschiedenen Stadtteilen hören, das Gebäude der Chemiefabrik war noch in den Händen der Aufständischen. Inzwischen haben sich die Rebellen in drei Gruppen aufgeteilt, eine Gruppe ist in Richtung Kirgisien abgezogen, im Bezirk Iljitschevsk haben sie wieder Geiseln genommen.«

Artikel vom 21.05.2005