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Firmen profitieren von
Familien-Freundlichkeit

Rocco Thiede leitet Projekt der Bertelsmann-Stiftung

Von Bernhard Hertlein
Gütersloh (WB). Alle reden von der drohenden Überalterung der Gesellschaft, vom Rentenloch und davon, dass das deutsche Sozialsystem bald nicht mehr finanzierbar sei. In Sonntagsreden wird die Familie hoch gepriesen. Und am Montag? In manchen Unternehmen ist es alles andere als selbstverständlich, dass Müttern durch flexible Teilzeitregelungen ermöglicht wird, Beruf und Familie miteinander zu verbinden.

Rocco Thiedes (41) Vorstellungen von Familienfreundlichkeit gehen weit über Arbeitszeitgestaltung hinaus. Der fünffache Familienvater betreut bei der Gütersloher Bertelsmann-Stiftung das Leitprojekt »Balance von Familie und Arbeitswelt«. Liz Mohn, der das auf mindestens drei Jahre angelegte Projekt unterstellt ist, sagt über die Situation in Deutschland: »Oftmals wird behauptet, dass die Familie die Keimzelle unserer Gesellschaft ist. Ein Blick auf die Wirklichkeit macht mich aber skeptisch. Viele Frauen haben oft nur die Wahl zwischen Familie, Kindern oder Berufstätigkeit. Beides verbinden zu können muss in Deutschland aber zur Regel werden, ohne dass Doppelbelastungen entstehen.«
Das Interesse des Beschäftigten, ob Vater oder Mutter, ist also klar; auch das Interesse der Gesellschaft. Doch warum tun Unternehmen in diesen schwierigen Zeiten mehr als sie vom Gesetz her tun müssen? Renate Schmidt (SPD), Bundesfamilienministerin und Partnerin der Bertelsmann-Stiftung in der »Allianz für die Familie«, sagt dazu: »Unternehmen profitieren von motivierten und zufriedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Beruf und Familie in eine gute Balance bringen.« Thiede legt Wert darauf, dass dies kein Wunschdenken ist, sondern durch Untersuchungen belegt: »Eine Prognos-Studie hat ergeben, dass familienfreundliche Maßnahmen mittelständischen Unternehmen eine bis zu 25 Prozent höhere Rendite bringen können.« Betriebe, die - wie das Medizintechnik-Unternehmen des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Ludwig Georg Braun - in größerem Maßstab Erfahrungen mit Teilzeit arbeitenden Eltern und anderen familienfreundlichen Maßnahmen machten, bestätigen deren »ökonomische Produktivität«. Dies gelte, wie eine zweite Prognos-Studie belege, auch für kleinere Unternehmen etwa im Handwerk. Vor allem ist Familienfreundlichkeit ein exzellentes Mittel, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb zu halten: »Fach- und Führungskräftemangel wird künftig noch mehr als bisher das Wachstum von Unternehmen verhindern.«
Die Bertelsmann-Stiftung geht selbst mit gutem Beispiel voran. Die Gütersloher »Familienstiftung von Reinhard Mohn« hilft Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beispielsweise mit Kontakten zu Tagesmüttern. Ein Rahmenvertrag mit zwei städtischen Kitas sichert die ganztägige Unterbringung von Mitarbeiterkindern - ein Service der bald für Kinder bis drei Jahren ausgeweitet wird.
In der Stiftung gibt es ein »Notfall-Zimmer«, in dem Kinder sich aufhalten und spielen können, wenn eine andere Unterbringung mal kurzfristig nicht möglich ist. Über die Stiftung hinausgehend ist ein »Lokales Bündnis für Familie« auf den Weg gebracht worden. Es ist - nach Bielefeld - bereits das zweite in OWL.
Zwei Jahre nach dem Start zieht das Projekt »Balance von Familie und Arbeitswelt« immer größere Kreise. Beim Wettbewerb »Familienfreundliche Unternehmen« arbeitet der Kooperationspartner der Gütersloher, das Bundesfamilienministerium, mit Financial Times und der Hertie Stiftung zusammen; die Ehrung wird von Bundeskanzler Gerhard Schröder Ende Mai in Berlin vorgenommen. Dazu kommt ein Buchprojekt, das Frauen vorstellt, die zusätzlich zu ihrem aufreibenden Job als Mutter auch in wirtschaftlichen Führungspositionen Erfolg haben. Und ein Internetportal wird Firmen über Möglichkeiten informieren, wie sie Betrieb und Betriebsablauf familienfreundlicher gestalten können. Unter der Adresse »www.mittelstand-und-familie.de« soll es am 6. Juni ans Netz gehen.
Thiede, vor dem Wechsel in die Bertelsmann-Stiftung Kunsthistoriker, Journalist und Pressesprecher der Bertelsmann DirectGroup, hat noch weitere Ideen, wie die Gesellschaft und besonders das Steuersystem familienfreundlicher gestaltet werden kann. Sein persönlicher Vorschlag: Das Ehegatten- durch ein Familiensplitting nach französischem Vorbild ersetzen. Oder Thema Mehrwertsteuer; Thiede: »Warum sind nur Lebensmittel und Bücher mit einem geringeren Satz belegt?« Mindestens ebenso viele gute Gründe gebe es aus Familiensicht, um zum Beispiel Babywindeln oder Kinderspielzeug mit einem ermäßigten Steuersatz zu behandeln.

Artikel vom 26.05.2005