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Leitartikel
EU-untaugliche Türkei

Angst
vor dem Sultan?


Von Jürgen Liminski
Da kann man nur noch den Kopf schütteln. Kein Politiker in Deutschland hat es gewagt, die Türkei oder auch nur das heimische Publikum auf die EU-Untauglichkeit des Erdogan-Staates hinzuweisen.
Ist es Feigheit? Ist es Wirklichkeitsverdrängung? Ist es die Haltung der Marquise de Pompadour: Nach mir die Sintflut? Dabei bietet die Aktualität mehr als nur einen Anlass, der Türkei die EU-Untauglichkeit zu bescheinigen.
Den jüngsten Grund lieferte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Es gab der Klage des Kurdenführers Abdullah Öcalan statt, der Prozess gegen ihn hatte den rechtsstaatlichen Kriterien nicht entsprochen. Nun muss der Prozess neu aufgerollt werden. Denn eine Berufung auf ein höheres Gericht ist nicht möglich und die Türkei hat die Grundlage für dieses Urteil, die Europäische Menschenrechtskonvention anerkannt.
»Sultan« Recep Tayyip Erdogan aber meint, die Türkei sei ein Rechtsstaat. Nur mühsam konnte er seine Verachtung für den Gerichtshof in Straßburg verbergen. Für ihn haben die nationalen und religiösen Instanzen Vorrang. Man darf jetzt gespannt sein, ob das Verfahren neu und nach den rechtsstaatlichen Kriterien, die in Europa üblich sind, aufgerollt wird. Geschieht es nicht, kann die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden.
Aber das stört Leute wie den Bundeskanzler Gerhard Schröder oder auch den deutschen EU-Kommissar Günther Verheugen wenig.
Sie wollen Europa weiter säkularisieren und entseelen. Überhaupt kein Interesse zeigen sie für den Stand der Religionsfreiheit in der Türkei. Anlässlich des Staatsbesuchs Gerhard Schröders Anfang Mai in Ankara wies das Internationale Katholische Missionswerk »missio-Aachen« auf die massiven Menschenrechtsdefizite hin. »In der Türkei ist bis heute keine kollektive Religionsfreiheit gegeben. Die Türkei verweigert nicht-muslimischen Minderheiten noch immer den Rechtsstatus, was im Widerspruch zum Friedensvertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 steht und damit völkerrechtswidrig ist«, kritisiert Otmar Oehring, Leiter der missio-Fachstelle Menschenrechte.
Auch der türkische Generalstab habe sich erst kürzlich gegen mehr Rechte für Minderheiten, insbesondere für die noch 150 000 Christen in der Türkei ausgesprochen. »Die Kirchen sind in ihrer Existenz bedroht, denn ohne Rechtsstatus können sie keinen Klerus ausbilden noch ihre inneren Angelegenheiten regeln«.
Die zwei Beispiele allein zeigen: Die Türkei ist kein Rechtsstaat nach europäischen Kriterien. Wenn aber schon die führenden Politiker in diesem Land gleichgültig darüber hinweggehen, erhebt sich die Frage, was sie überhaupt unter Recht verstehen. Vielleicht geht man darüber besser schweigend zur pusseligen Tagesordnung über mit Finanzlöchern, Kapitalismus-Schelte und Grüßen zum Filmfestival nach Cannes.

Artikel vom 17.05.2005