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Er klappte ein aufgeschlagenes Buch zusammen, schob es beiseite und packte sauber beschriebene Papierbögen oben drauf. »Langeness und Butwehl haben noch mehr Kinder. Die Halligleute sind Tag und Nacht fleißig, könnte man sagen.«
Über Wirk wollte er anscheinend nicht sprechen, und Sönke Hansen respektierte es. »Gelegentlich unterbrochen durch Tage wie diesen.«
Carsten Boysen stand wieder auf, um aus einem Wandschrank blau gemusterte Tassen zu holen und anschließend Tee aus einer Kanne einzugießen, die auf dem Eisenofen heiß gehalten wurde. »Ich nehme an, Sie trinken auch Tee«, sagte er und fuhr fort, ohne auf die Antwort zu warten: »Es ist viel zu tun, das stimmt, vor allem zu dieser Jahreszeit. Einen Sturm mit Landunter kann man da nicht gebrauchen.«
»Schon mit einem niedrigen Steindeich um die ganze Hallig hätte man sich dieses Hochwasser vom Halse halten können«, meinte Hansen.
Boysen schmunzelte kaum wahrnehmbar. »Stimmt. Aber Halligleute sind konservativ, sie mögen keine Neuerungen. Ich habe schon gehört, dass Sie mit Ihren Vorschlägen angeeckt sind.«
»Leider ja. Sie wollen sich nicht gerne retten lassen. Allerdings gebe ich zu, dass ein Steindeich nur vom Festland aus aussieht wie eine Aneinanderreihung von Steinen. Für die Halligbevölkerung würde er eine einschneidende Maßnahme sein.«
»Tatsächlich? Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, gab Boysen zu. »Ich schreibe gerade eine Abhandlung über die Pflanzen der Hallig.«
»Deren Zusammensetzung würde sich mit der Abnahme des Salzgehaltes ändern. Das ist aber längst nicht alles É«
»Sollte das Wasserbauamt wirklich die Rolle unseres Herrn übernehmen?«, fragte Boysen kritisch.
Hansen war nicht fromm, aber es gab keinen Grund, sich mit dem Lehrer über religiöse Fragen zu streiten. »Man muss es wohl eher so sehen, dass wir uns bemühen, die vom Herrn geschaffene Natur zu erhalten«, sagte er.
Boysen lächelte hintergründig.
»Es gibt ja auch Halligleute, die mit dem Wasserbauamt einer Meinung sind«, fuhr Hansen fort. »Ich hoffe, dass Mumme Ipsen und diese energische junge Frau, deren Namen ich nicht erfuhr, imstande sind, auch die Nordmarscher auf künftige Baumaßnahmen einzustimmen.«
»Schmökte sie? Aber selbst, wenn nicht, kann es nur Jorke Payens von Ketelswarf gewesen sein.«
Hansen schüttelte etwas verwirrt den Kopf. »Warum sollte sie geraucht haben?«
»Jorke ist resolut wie ein Mann und zeigt gerne ihre Freiheit«, erklärte Boysen mit nachsichtigem Lächeln. »Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck und lässt sich nicht den Mund verbieten.«
»Aha«, murmelte Hansen und ließ sich Jorkes Einwürfe vom Vorabend nochmals durch den Kopf gehen. Er hatte sie schon auf dem Schiff gemocht. Irgendwie erinnerte sie ihn an Gerda.
»Es muss mit der Selbständigkeit der Frauen während der großen Zeit der Halligen zusammenhängen«, fuhr Carsten Boysen nachdenklich fort. »Während die Männer auf Walfang waren, mussten die Frauen hier alles machen: das Vieh versorgen, die vorhandenen Sommerdeiche ausbessern, Heu und Ditten machen, jedes Jahr die Fennen vermessen, fischen. Eben alles. Die Männer kamen im Herbst zurück, lieferten ihre Heuer ab und machten sich dann daran, Kinder zu zeugen. Entschuldigen Sie meine Deutlichkeit.«
Hansen nickte schmunzelnd.
»Bei den Halligfrauen ist Selbständigkeit nichts Aufgesetztes, Mondänes, wie bei den Damen aus Berlin auf der Wyker Promenade. Nicht alle zeigen ihre Unabhängigkeit so offen wie Jorke, die nie geheiratet hat, aber viele sind es. Ich habe mich daran gewöhnt.«
»Mir gefällt es. Es erinnert mich an die dänischen Frauen.«
»Dänemark, na ja É« Carsten Boysen schnitt ein Gesicht und schenkte Hansen Tee nach. Im Gespräch trat eine kleine Pause ein.
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Hansen.
»Ja?«
»Wer sind die Strandvögte der Halligen? Es wäre wohl von Vorteil, wenn ich mit den dreien das jeweilige Ufer abgehen könnte. Die Strandvögte sind erfahrungsgemäß von allen am besten über ihre Strandabschnitte informiert, will sagen, Abtrag, Anlandung, Wellenarten bei welchen Windrichtungen und dergleichen.«
»Tja«, sagte der Lehrer bedächtig. »Weisungsgebend für die Strandvogteien von Nordmarsch und Langeness-Butwehl ist das Strandamt Pellworm. Der Strandhauptmann von Pellworm setzt die Strandvögte ein. Sofern er keine einsetzt, ist der Ratmann der Gemeinde ex officio Strandvogt.«
»Das heißt?«, fragte Hansen und runzelte ahnungsvoll die Stirn.
Boysen schüttelte den Kopf. »Seit mehreren Jahren sind keine Strandvögte ernannt worden. Tete und Mumme nehmen die Aufgabe wahr.«
»Friedrichsen«, murmelte Sönke Hansen und klopfte mit den Händen auf die Armlehnen seines Stuhls. »Ausgerechnet!«
Der Lehrer äußerte sich nicht.
»Das macht meine Aufgabe nicht gerade leichter. Tete Friedrichsen scheint mir ziemlich schwierig.«
»Sie verstehen sicher, dass ich mich dazu nicht äußern werde. Aber Behutsamkeit Tete gegenüber wäre angebracht.«
Trotz der Zurückhaltung des Lehrers eine eindeutige Warnung. Hoffentlich besaß Mumme Einfluss auf den Nordmarscher Ratmann. Na ja, Hansen hatte nicht erwartet, dass seine Aufgabe leicht sein würde. Er seufzte leise und stand auf, um sich zu verabschieden.
Der Wind war inzwischen abgeflaut. Trotzdem wurde er noch von einer Böe in das Wirtshaus geschoben. Im Flur fiel Hansen noch etwas ein. Er rannte wieder zurück zum Lehrerhaus und trug seine Bitte vor.

Kapitel 5
Ungeduldig wie eine Rennyacht vor dem Start wartete Hansen darauf, dass es Abend wurde. Die Wege lagen am Nachmittag schon im Trockenen.
Noch bevor der erste Versammlungsteilnehmer eintrudelte, hängte Hansen die Karte auf. Mit einiger Erleichterung sah er Mumme und Jorke zusammen die Gaststube betreten, und hinter ihnen drängten etliche herein, an deren Gesichter er sich noch aus dem Schulraum erinnerte. Je mehr Langenesser und Butwehler, desto besser.
Aber es schien fast, als hätte Tete Friedrichsen noch mehr Gefolgsleute mobilisiert, es waren mehr Nordmarscher anwesend als beim ersten Mal. Neben Friedrichsen nahmen der Alte mit der schrillen Stimme und der Schiffer der Rüm Hart Platz. Hansen nahm sich vor, diese drei besonders im Auge zu behalten. Weshalb Rouwert, der Wirt, eine Weile mit ihnen flüsterte, konnte er sich nicht erklären.
»Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid«, begann Hansen kurz darauf seine förmliche Begrüßung, »zeigt es doch die Ernsthaftigkeit, mit der ihr die Angelegenheit zu besprechen bereit seid.«
Ein Lacher kam aus der Ecke der Nordmarscher.
Sönke Hansen ließ sich nicht beirren. Er schob die Schultafel zurecht, die er sich vom Lehrer ausgeliehen hatte, und bemerkte jetzt Aufmerksamkeit und Neugier auf den meisten Gesichtern. »Mir scheint, am meisten Kummer macht euch allen die Durchdämmung der großen Schlote zwischen den Halligen. Ich möchte euch dazu gerne die Einzelheiten erklären.« Behände skizzierte er, wie die technischen Probleme gelöst werden würden. Jeder konnte erkennen, wie der Steindeich an den Halligkanten im Verlauf und im Profil aussehen würde, wo die alten Sommerdeiche längs der Priele an den neuen Deich angeschlossen werden sollten, und wie die Stellung der Schleusentore im offenen und im geschlossenen Zustand war.
Die Zuschauer schwiegen beeindruckt, als Hansen fertig war. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, dass Jorke Mumme Ipsen mit dem Ellenbogen anstieß, worauf dieser aus seiner Versunkenheit aufschreckte und aufstand. »Danke, Bauinspektor«, sagte er überwältigt, »noch nie hat uns einer so wie du erklären können, was getan werden muss, wie und wozu es dient und welchen Vorteil wir davon haben. Ich denke, das hat nun wirklich jeder verstanden.«
»Das haben wir«, rief Tete Friedrichsen und sprang auf. »Dieser so genannte Deichbauinspektor versucht uns den freien Zugang zum Meer zu nehmen, um aus uns Bauern zu machen, was wir nie waren! Von wegen Deichbauinspektor! Man sollte ihn richtiger einen preußischen Landgewinnungsinspektor nennen! Und das, obwohl der Mann eine Kuh nicht von einem Bullen unterscheiden kann. Aber er wagt sogar, uns Ratschläge über Ameisenbekämpfung und Dunghaufen zu geben! Dreist ist das! Unverschämt!«
Gelächter kam auf, dieses Mal auch bei den Langenessern. Sönke Hansen war weniger belustigt.
»Er ist ein Stadtmensch ohne jede Ahnung davon, was einer Hallig Not tut«, fuhr Friedrichsen erregt fort. »Woher sollen wir wissen, dass er sich bei seinen Berechnungen und Voraussagen nicht irrt? Was ist, wenn er da genauso gut Bescheid weiß wie über Kühe? Und was passiert, wenn wir zustimmen, und in ein paar Jahren die wohlmeinenden Hoffnungen eines unbedeutenden Bauinspektors vom Festland wie Luftblasen platzen? Vielleicht hat er sich ja verrechnet! Ihn würde es nicht stören. Er sitzt dann längst bei hoher Besoldung in Berlin und schmiedet neue Pläne, die dem Kaiser gefallen. Nur wir hier haben den Schaden!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.05.2005