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Bielefelds Bahnsteig im Denkmal

Unter der Weite der 2711 Stelen die ganze Tiefe des Schreckens des Holocaust

Von Sarah Hegenberth
Berlin (WB). 2711 Stelen sind sichtbarer Ausdruck der Weite des Schreckens. Tiefe erfährt das Holocaust-Mahnmal durch ein unterirdisches Informationszentrum, das auch Bezug auf Ostwestfalen nimmt.

»Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.« Das Wort des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi empfängt Besucher der unterirdischen Räume. Es folgt eine Zusammenfassung der Geschichte von 1933 bis 1945, mit Schwerpunkt auf den Jahren des Holocausts.
In einer Text-Bild-Leiste wird die Diskriminierung von Juden in den unterschiedlichsten Regionen verdeutlicht. Auch Aufnahmen aus der Kriegschronik der Stadt Bielefeld sind in Berlin zu sehen. Wie ein kurzer Ausschnitt aus einem Film wirkt die Folge von drei Bildern auf den Betrachter.
Auf der ersten Fotografie ist ein überfüllter Bahnsteig zu sehen. Menschen versuchen mit viel Gepäck in den Zug einzusteigen. Ein paar Leute gucken schon aus den Fenstern des Zuges. Ein Soldat dirigiert die Menschen mit Handzeichen. Auf dem nächsten Bild ist der Bahnsteig schon deutlich leerer. Die letzten Menschen steigen in den Zug ein. Auf dem dritten Bild gucken die Menschen aus dem Fenster des Zuges. Wehmütig blicken sie ein letztes Mal in die vertraute Umgebung. Ihre Blicke drücken Angst und Unsicherheit aus. Nur ein älterer Mann lächelt. Vielleicht glaubt er noch, dass die Juden im Osten ihr eigenes Land bekommen.
Durch diese Bilder, auf denen jüdische Bewohner der Region auf dem Bielefelder Bahnhof unmittelbar vor der Deportation nach Riga zu sehen sind, erscheinen die Ereignisse vom 13. Dezember 1941 gegenwärtig.
Noch im Foyer vor den vier Ausstellungsräumen passiert der Besucher großformatige Porträts. Sie stehen für sechs Millionen jüdische Opfer des Holocausts. Die anonymen Stelen des Denkmals oben bekommen hier unten zum ersten Mal ein Gesicht. Wie viele solcher Gesichter durch die Stelen, die an Grabmäler erinnern, repräsentiert werden ist bis heute unklar. Jedenfalls ist die Zahl unfassbar groß. Dementsprechend wählte der Architekt des Denkmals, Peter Eisenman, die Zahl von 2711 Stelen aus rein architektonischen Überlegungen und ohne Beziehung zur Zahl der Opfer.
Im »Raum der Dimensionen« sind auf dem Zahlenfries nur wenige absolute Zahlen zu finden. Die meisten Angaben bestehen aus Zahlenspannen, da bis heute nicht genau feststeht, wie viele Menschen in den einzelnen Ländern wirklich umgekommen sind. Auf dem Boden finden sich Selbstzeugnisse der Ermordeten. Eine Postkarte, während der Deportation nach Auschwitz aus dem Zug geworfen, und viele andere Stücke sind in Feldern angeordnet, die die Grundrisse der Stelen darüber darstellen. Wie im Stelenfeld, das nur einzeln abgeschritten werden kann, da nur knapp ein Meter breite Durchgänge bleiben, soll der Besucher auch hier eine individuelle Erfahrung machen.
Im »Raum der Familien« werden die Schicksale von 15 jüdischen Familien erzählt. Sie stehen für die Vielfalt jüdischer Lebenswelten. Meist mündet die Erzählung von dem Leben vor dem Krieg in einem Nichts.
Im »Raum der Namen« wird im Minutentakt ein Name mit Geburts- und Sterbejahr projiziert, begleitet von der Lesung einer Kurzbiografie. Der Vortrag aller Namen und Lebensgeschichten würde sechs Jahre, sieben Monate und 27 Tage dauern.
Danach der »Raum der Orte«. Unfassbar wie viele Rechtecke sich auf die Landkarte verteilen. Im Osten Europas überlappen sie sich mehrfach. Unfassbar auch die Ausdehnung des Völkermordes, der sich von Afrikas Küsten bis in den Norden Europas erstreckt.
Auch hier wird auf die Geschichte der Bielefelder Juden eingegangen. Am 10. Dezember 1941 mussten sich Juden aus Westfalen in der Bielefelder Gaststätte »Kyffhäuser« versammeln. Von dort wurden sie in Bussen zum Bahnhof gebracht, von wo sie nach Riga deportiert wurden. Ihr Gepäck bestand aus Werkzeugen, Töpfen und kleinen Öfen. Unter den 420 Deportierten waren 36 Kinder wie Manfred und Dieter Schönewald aus Paderborn, die umkamen.
Am Nachmittag des 13. Dezembers 1941 verlässt der Zug den Bahnhof. Zum Abschied singen die Deportierten wehmütige Lieder. Viele hoffen auf eine Umsiedlung. Von einem Vorortsbahnhof müssen die westfälischen Juden dann noch einen weiten Weg bis zum Rigaer Ghetto antreten, wo sie im »Bielefelder Bezirk« einquartiert werden. Sie müssen Zwangsarbeit leisten und nur 102 überleben. Dem Zug folgen bis Februar 1945 noch acht Deportationen aus Bielefeld.
Am Ende steht das Gedenkstättenportal, in dem interaktiv über Gedenkstätten, Denkmäler und Museen in ganz Europa informiert wird.
Beim Verlassen des Orts der Information wird der Besucher erneut mit dem Denkmal konfrontiert, da der Ausgang aus der Ausstellung direkt in das Stelenfeld mündet. Wie Grabmäler ragen die Stelen noch immer aus dem Boden. Sie haben von ihrer bedrückenden Stimmung nichts verloren. Im Gegenteil.
Geöffnet ist der Ort der Information täglich von 10 bis 20 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Artikel vom 11.05.2005