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Potztausend! Der Dichter lebt!

Amüsant: Publikum bejubelt das Theaterprojekt »Fürstengruft//Schiller«

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Ach, hätten unsere Pauker doch einst ihren ehrwürdigen Schiller so unterhaltsam feilgeboten, wie es das Theater Bielefeld jetzt tut! Dem Projekt »Fürstengruft 200//Schiller«, das am Montag im Bunker an der Neustädter Straße uraufgeführt wurde, sind ganze Busladungen von Schülern als Zuschauer zu wünschen.

Keineswegs nur Schüler. Wer zu Zeiten, als man die überschäumende Lebensfreude der Jugend noch mittels Auswendiglernens der »Glocke« zu kanalisieren pflegte, dürfte sich am Montag verwundert die Augen gerieben haben: Potztausend, dieser Friedrich Schiller ist ja alltagstauglich! Witzig! Mit dem 21. Jahrhundert kompatibel!
Dass der Dichterfürst in die unterirdische Kühle eines Weltkriegsbunkers gehört, ist natürlich bloß ein Scherz der Theaterleute. Gespielt wird auf zwei Ebenen (Bühne: Sandra Meurer), in der Gruft und in der RTL-2-Zeit. Unten steht Schiller in vierfacher Ausfertigung auf dem Podest, ein Buch in der Hand, ganz in Weiß gekleidet, genau so, wie die marodierenden Taubenschwärme unsere Bronzedenkmäler zu verzieren pflegen. Oder (wenn Ihnen das lieber ist): knochenbleich wie der Tod. Und obendrüber prollt die »Big-Brother«-Family.
Was die Darsteller rezitieren, ist Schiller im Original, nur nicht in voller Länge. Regisseur Dominik Günther (Hamburg) hat im Zusammenwirken mit Dramaturgin Monika Gysel Auszüge aus Briefen, Dramen-Fragmente, Gedichte, Balladen et cetera zu einem homogenen neuen Gesamttext verklammert.
Therese Berger und Max Grashof versenken sich anhand der Briefe zur »Ästhetischen Erziehung des Menschen« in die Frage, welche Rolle die Kunst in der Gesellschaft spielen könne. Sie kennen das: leere Kassen, Theatersterben und so. Schon vor 200 Jahren fürchtete Schiller, das Biest des Profitstrebens würde die Schönen Künste meucheln. Recht hat der Mann: Heute trägt doch jeder Kassenwart bis hinauf zum Finanzminister den Dolch im Gewande.
Stefan Gohlke wütet mit dem »Taucher« gegen den Materialismus aller Zeiten, und als das »Lied von der Glocke« angestimmt wird, fällt es Benjamin Armbruster siedendheiß ein: Über aller Lyrik, über allen geistigen Genüssen nicht die Bedürfnisse des Leibes vergessen! Stürzt davon und kehrt mit einem köstlich duftenden Pfannengericht zurück.
Wo hat er das her? Nun: Zwei Etagen höher pulst das Leben. Die Familie sitzt im Wohnzimmer beisammen, und die Eltern wollen wissen, ob der Nachwuchs auch brav seinen Schiller inhaliert hat. Oliver Baierl als Ozzy Osborne, der Inkarnation des schlechten Geschmacks, nuckelt an der Bierflasche, Nicole Paul als Mixtur aus Marlene Jaschke und Annemie Fußbroich hat für jeden Zweizeiler mal 'nen Euro, und »Tante« Lisa Wildmann, irgendwo zwischen Mortica aus der »Addams Family« und Paloma Picasso angesiedelt, füllt mit Schiller-Zitaten den Hartz-IV-Fragebogen aus, denn der Dichterfürst war ja zeitweilig ein ganz armer Schlucker.
Katharina Zoffmann gibt die nervensägende Göre, die die »Ode an die Freude« zur Jahrmarktfanfare verhunzt, derweil Andreas Hilscher den morbiden Jungpubertierenden mimt - Harold sucht Maude. In der Küche brutzelt sich die Family was zum Rütli-Schwur (Armbruster klaut die Pfanne), im Schlafzimmer läuft Strip-Poker, bis Urgroßmutter Therese Berger aus der Gruft hochsteigt, den Zeigefinger hebt und mahnt, der Mann müsse hinaus ins feindliche Leben, während die züchtige Hausfrau weise im häusliche Kreise herrsche - Sie wissen schon.
Ernst und Komik halten sich sehr schön die Waage, im Schiller-Shop können Sie Schiller-Shirts erwerben, und in der Bar serviert man Ihnen den »Schiller pur«-Cocktail. Eine höchst phantasievolle Inszenierung, und wenn Sie zum Schluss immer noch nicht wissen, was uns Schiller heute noch zu sagen hat, ist Ihnen nicht mehr zu helfen, dann wünscht Ihnen Max Grashof »Die Pest«, eine frühe Schiller-Phantasie an den Hals.
Weitere Vorstellungen am 13./14., am 19./20. und am 25. Mai.

Artikel vom 11.05.2005