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Der »Schießer« aus der
Hölle von Warschau

Erster Prozess gegen einen Verbrecher aus dem Ghetto

Bielefeld (WB). 26. Januar 1961. Polizisten dringen in das Haus Deckertstraße Nr. 64 in Gadderbaum ein und nehmen Karl Heinrich Klaustermeyer in Gewahrsam. Den »Henker in der Hölle von Warschau«. Gefürchtet als »Der Schießer«.

Der 46-jährige Kraftfahrer, ein bulliger Mann mit einem auffälligen Grübchen am Kinn - anhand dessen die Zeugen ihn identifizieren -, verheiratet mit einer Kriegswitwe und Pelznäherin, sitzt fast vier Jahre lang in U-Haft.
Der Saal platzt aus allen Nähten, als am 23. November 1964 das Schwurgerichtsverfahren gegen Heinrich Klaustermeyer beginnt. Im ersten deutschen Prozess um Vorgänge aus dem Warschauer Ghetto, dem »schaurigsten, der je in Bielefeld verhandelt wurde« (Zeitungsnotiz), ist ein Mann des 20-fachen Mordes angeklagt, dessen Anblick genügte, um ganze Straßenzüge leerzufegen. Staatsanwalt Werner Kny wirft Klaustermeyer vor, »aus eigenem Entschluß und ohne jeden Anlaß willkürlich und wahllos jüdische Ghettobewohner aus Mordlust oder Rassenwahn niedergeschossen zu haben«.
Klaustermeyer wurde 1914 in Bünde geboren, machte eine Lehre als Kfz-Schlosser, trat 1932 in die NSDAP ein und wurde als Bote und Hausmeister in der Stadtverwaltung Bünde beschäftigt. Die Bielefelder Gestapodienststelle am Siekerwall 9 vermittelte den Schutzpolizei-Bewerber schließlich ans Judenreferat IVB4 beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst) für den Distrikt Warschau.
Hier hatte Klaustermeyer Verstorbene zu registrieren, Betriebe im Ghetto und die Arbeitsleistung ihrer jüdischen Arbeiter zu kontrollieren. Beim Herannahen der Roten Armee setzte er sich in den Westen ab, wurde zwei Jahre lang von den Briten in Staumühle interniert und ließ sich dann in Bielefeld als Kraftfahrer nieder.
Man habe Klaustermeyer für einen Buchhalter oder Intellektuellen halten können, schrieb der Gerichtsreporter 1964: »Tadellos geschnittener blauer Anzug, Hornbrille, sorgfältige Frisur mit Geheimratsecken, leise Stimme.« Der Angeklagte charakterisierte sich als »unbedeutenden Aktenwurm«.
Sein Pflichtverteidiger: der heute noch praktizierende Rechtsanwalt Dieter Röllecke. Vorsitzender Richter: Landgerichtsdirektor Dr. Werner Vinke, der wegen Krankheit am 7. Dezember von Landgerichtsrat Paul Pieper abgelöst wurde. Recht früh beschlich das Gericht der Verdacht, dass mit den Zeugen etwas nicht stimmte.
In der Tat: Klaustermeyer erpresste ehemalige SA-Angehörige und beauftragte sie und einen Cousin, Zeugen einzuschüchtern. Eine peinliche Justizpanne, denn der Cousin hatte in Hamburg, wo man ebenfalls gegen Kriegsverbrecher ermittelte, problemlos Akteneinsicht erhalten. Opfer dieser üblen Aktion wurde ein Mann, den die Polizei in München vom Stammtisch weg verhaftete: Klaustermeyer behauptete, mit ihm verwechselt zu werden, doch bei Gericht erkannte ihn niemand.
Am 21. Dezember stöckelte Madeleine Bratzel, modischer Bubikopf, knappes Deux-Pièces, Pelz, weiße Handschuhe, auf hohen Absätzen in den Zeugenstand. Die Ex-Frau eines SS-Hauptsturmführers, die man in Warschau als »Schwarze Marla« kannte, war aus Kalifornien angereist, um zu behaupten, die Leichen, die Klaustermeyers Weg pflasterten, seien eines natürlichen Todes Gestorbene. Ghettobewohner hätten sie vor die Haustür gelegt, weil Klaustermeyer ihnen »freundlicherweise« gesagt hatte, in solchen Fällen zahle der NS-Staat die Beerdigung. Geschmacklos.
Die Wirklichkeit sah anders aus. In einer Fahrradrikscha, gezogen von einem Juden, den Klaustermeyer später aus einer Augenblickslaune heraus erschoss, bewaffnet mit Nilpferdpeitsche, Pistole und MP, zog »der Schießer« durchs Ghetto und feuerte auf alles, was sich bewegte. Ältere Bürger aus Bünde erinnerten sich an unappetitliche Sexfotos, die Klaustermeyer bei Besuchen herumzeigte. Abends abgeholt, nachts erschossen, erklärten Zeugen aus Warschau.
Irena Rojek sagte aus: »Es gab in Warschau viele Deutsche, die wohl mal drohten, aber keinen totmachten, doch Klaustermeyer hatte Vergnügen daran.« Jeden Morgen marschierte eine Kolonne aus dem Ghetto zur Arbeit ins Ursus-Panzerwerk - immer wenn Klaustermeyer vorbeikam, lichteten sich die Reihen der Juden. Die unterstanden der Wehrmacht. Kalman Jakowsky erklärte dazu: »Die deutschen Soldaten haben sich der SS geschämt und mochten uns nicht in die Augen sehen.«
Bis zum März 1943 zählte man im Ghetto 8750 Erschossene, 70 Prozent davon »willkürlich« (?) gemordet. Wieviele davon auf Klaustermeyers Konto gingen, bleibt unklar. Staatsanwalt Kny forderte am 25. Januar 1965 elfmal Lebenslänglich, Röllecke plädierte in drei Stunden auf Freispruch. »Ich lege mein Schicksal in Ihre Hände. Sie haben über Tod und Leben zu entscheiden«, meinte der Angeklagte pathetisch.
Verurteilt wurde Klaustermeyer am 4. Februar, 15 Uhr, - der WDR filmte - zu neunmal lebenslänglicher Haft. Richter Vinke ließ keinen Zweifel am Tatmotiv: Rassenhass.
Nach dem Urteil verliert sich Klaustermeyers Schicksal im Dunkel. Er saß im Zuchthaus Werl ein, bevor er 1967 nach Remscheid verlegt wurde. Gerüchteweise ist von einer Entlassung wegen unheilbarer Tuberkulose zu hören; 1976 soll Heinrich Klaustermeyer gestorben sein.
Mit dieser Folge beendet das WESTFALEN-BLATT die Serie zum Kriegsende vor 60 Jahren.

Artikel vom 10.05.2005