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Leitartikel
8. und 9. Mai in Moskau

Auf schmalem
Grat in hellem Licht


Von Rolf Dressler
Kein einziges Opfer von Kriegen, Terror und Gewalt jedweder Art und Abart, ob auf dieser oder jener Seite, kann man je gegen ein anderes »aufrechnen«. Das verbietet allein schon diese arithmetisch-kalte Begriffsschöpfung. Nur gefühlsarme Technokraten oder Schreibtischtäter in des Wortes doppelter Bedeutung können auf ein solches buchhalterisches Gegenrechnen verfallen.
Eine dornenreiche Wegstrecke haben vor allem die Völker und Nationen des alten und zugleich hoffnungsvoll jungen Groß-Kontinents Europa zurücklegen müssen bis zu diesem 9. Mai 2005. Schaufel für Schaufel sozusagen wurden binnen sechs Jahrzehnten abgrundtiefe Riesengräben zugeschüttet, Brücken über scheinbar Unüberbrückbares geschlagen, bis sich am gestrigen historischen Montag nun schließlich mehr als 50 Staats- und Regierungschef aus der ganzen Welt in Moskau zusammenfanden. Dort reichten Russlands Präsident Wladimir Putin und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder einander die Hände - zum Ausdruck von Vergebung und Versöhnung.
Eine wahrhaft denkwürdige Geste. Denn ihr wohnt mehr inne als nur die Bekundung, aus der Geschichte lernen und die Zukunft möglichst in Gemeinsamkeit friedlich gestalten zu wollen. Kaum vorstellbar, dass dieses große Versprechen morgen schon wieder im Alltagskonflikt-Geschäft verblasst und versinkt. Denn dann würden nicht nur die überlebenden Kriegsveteranen die Welt nicht mehr verstehen. Es wäre posthum eine Schmach für die abermillionen Toten Weltkriegstoten und eine gewaltige Enttäuschung für die heutigen und künftigen Generationen der Völker.
Indes, die Gratwanderung der Herrschenden wird sich auch morgen noch fortsetzen.
Waldimir Putin beispielsweise führt die Losung »Nie wieder Krieg« im Munde, lässt seine Soldaten aber gleichwohl einen ebensolchen mit roher Gewalt in Tschetschenien ausfechten gegen einen Gegner, dem freilich auch kein Kampfesmittel zu brutal ist.
Den von dem Sowjet-Tyrannen Stalin geschundenen baltischen Völkern verweigert Putin noch immer ein öffentliches Verzeihen. Und von Demokratie im eigenen Machtbereich hat er, gelinde gesagt, sehr eigenwillige Vorstellungen.
Die Ursachen für Hitlers Weltkriegs-, Eroberungs- und Rassenwahn und dessen gigantische Unheilsfolgen aber reichen weiter zurück als nur bis zu dessen so- genannter Machtergreifung am 30. Januar 1933: »Der Erste Weltkrieg war nur die Vorbereitung. Die Vernichtung des deutschen Volkes fängt jetzt erst an« (Frankreichs Regierungschef Clemenceau 1919, 14 Jahre vor Hitler). »Wir zwingen Hitler den Krieg auf, ob er will oder nicht« (Englands Premier Winston Churchill 1936). »Wir wollen den Krieg mit Deutschland, und wir werden ihn bekommen« (Polens Marschall Rydz-Smigly 1939, unmittelbar vor Kriegsausbruch).
Geschichtliche Wahrheit kann oft genauso schmerzen, wie Welt-Friedensarbeit mühsam ist.

Artikel vom 10.05.2005