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Aber er würde sich hüten, darüber eine Bemerkung zu machen. Die Abneigung der Halligleute gegen Ratschläge hatte er ja gestern bereits zu spüren bekommen.
»Passen Sie auf, dass Sie bei Ihrem Spaziergang nicht von Hilligenlei abgeschnitten werden. Unversehens haben Sie einen voll gelaufenen Priel hinter sich, während Sie nur auf das Ufer achten und sich noch in Sicherheit wähnen.«
»Ich danke für die freundliche Warnung«, sagte Hansen und verbeugte sich höflich. »Glücklicherweise bin ich nicht auf allen Gebieten so unkundig wie im Hinblick auf Tiere.«
Der Lehrer lächelte belustigt, schwenkte seine Pfeife zum Abschied und stapfte davon.
Als er außer Sicht war, bückte Hansen sich. Der Kadaver war zu schwer, um ihn ganz herumzudrehen, aber er war zu neugierig, um ihn nicht zu untersuchen. Schließlich entdeckte er die Kopfverletzung. Ein scharfkantiger Gegenstand war dem Tier in den Schädel gedrungen und hatte die Knochen gespalten. Blut und Gehirnmasse waren wohl vom Wasser abgewaschen worden.
Seltsam, dass ausgerechnet in diesem Paradies ein stinkender Kadaver angelandet war, um in so übler Weise an die Gefahren des Lebens und an den Tod zu erinnern. Schaudernd ließ Hansen den Seehundkopf in den Sand zurücksinken.
Die Besprechung der Langenesser mit Hansen sollte im Schulraum stattfinden, der sich im östlichen Teil der Kirche befand. Hansen traf erhitzt vom scharfen Marsch ein und betrat inmitten anderer Ankömmlinge den Versammlungsraum.
Kurz nach ihm kam die junge Frau vom Schiff. Verdutzt folgte Hansen ihr mit den Augen, bis sie sich setzte. Im Unterbewusstsein registrierte er das leise Gelächter hier und da im Raum und die eher neugierigen als ablehnenden Blicke. Die Stimmung war hier anders, weniger aggressiv.
Mumme Ipsen kam auf Hansen zu, ein stämmiger, schon grauhaariger Mann mit einem sympathischen, intelligenten Gesicht. Leise teilte er ihm mit, dass außer den Langenessern auch einige Butwehler gekommen seien, wartete, bis Hansen sich einen Platz gesucht hatte, und eröffnete dann die Versammlung.
»Leve Lüüd É«, begann Ipsen, um zwischen Plattdeutsch, Friesisch und gelegentlich auch Hochdeutsch so geläufig hin und her zuwechseln, wie er auch eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Schutzmaßnahmen der dänischen, der preußischen und der kaiserlichen Obrigkeit für die Halligen zu geben imstande war.
Hansen klatschte beeindruckt Beifall, als Ipsen seine Einleitung beendet hatte. Er war von anderem Kaliber als Tete Friedrichsen.
»Und so möchte ich euch denn Sönke Hansen vorstellen, der als Vogelbeobachter, Fischer, Jäger und Badegast zu uns gekommen ist und ganz nebenbei als Sachverständiger des Wasserbauamtes auch mit uns über die neuen Pläne der Regierung plaudern möchte.«
Selbst Hansen musste über diese Beschreibung lachen, und als Ipsen ihm freundlich zuzwinkerte und sich hinsetzte, stand er leichten Herzens auf und befestigte seine Landkarte an der Schultafel.
Im Wesentlichen erzählte er den Langenessern das Gleiche wie den Nordmarschern, und sie hörten aufmerksam und ruhig zu.
Unvermittelt meldete sich die Frau, und Hansen erteilte ihr das Wort. »Wie sieht es mit den Plänen aus, uns auf das Festland umzusiedeln?«
Hansen nickte. »Die stehen nicht zur Debatte. Derzeit geht es darum, die Halligen mitsamt ihrer Bevölkerung in ihrer gewohnten Lebensweise zu erhalten. Aber ich möchte deutlich machen, dass der ernsthafte Wille der Regierung, die Schutzmaßnahmen mitsamt der sehr hohen Kosten durchzuführen, auch davon abhängig ist, dass die Halligbevölkerung bereit ist, mitzumachen.«
»Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Ich glaube, wir müssen bereit sein, mitzumachen.«
»Richtig«, warf Ipsen ein. »Dass die Maßnahmen in der Vergangenheit verschleppt wurden, liegt teilweise auch an uns selbst. Aber damit soll jetzt Schluss sein!«
»Was ist mit den großen Prielen zwischen den Halligen?«, erkundigte sich jemand.
»Die Durchdämmung muss sein«, antwortete Hansen fest. »Wenn wir die Ufer schützen, können wir nicht zulassen, dass das Wasser von binnen nagt und abträgt.«
»Aber dann werden die Nordmarscher ja zu Langenessern! Igitt, igittigitt! Und glauben womöglich, noch mehr Anspruch auf unsere Quelle zu haben.«
Gelächter kam auf, und alle wandten sich zu dem vorlauten Jüngling um. Im Grunde ihres Herzens stimmten sie mit ihm überein. Auch Ipsen nickte sorgenvoll. Aber es gab keine Kampfstimmung.
»Wir wollen Langenesser bleiben, und den Nordmarschern geht es genauso«, fasste Ipsen für Hansen zusammen. »Die Durchdämmung des Ridd hat uns schon nicht geschmeckt É Aber jetzt auf allen Seiten? Gibt es keine andere Lösung?«
»Kaum«, sagte Hansen mit geringem Bedauern. »Aber glaube mir, in hundert Jahren weiß keiner mehr davon. Da seid ihr Langenesser mit den Nordmarschern längst zusammengewachsen. Es ist doch einfach großartig, wenn noch eure Enkel und Urenkel in den Häusern wohnen, die ihr oder eure Väter mit eigenen Händen gebaut habt. Keiner braucht mehr auszuwandern, weil seine Warf im Wasser versunken ist. Neu York ist sicher schön, aber die Halligen sind schöner. Ist das nicht ein Zusammenrücken aller Halligleute wert?«
»Das ist es«, bekräftigte die resolute junge Frau in die nachdenkliche Stille hinein. »Mumme, sprich morgen mit den Nordmarschern. Ich beabsichtige nicht, mein Haus davonschwimmen zu sehen, nur weil der Ratmann von Nordmarsch zu dämlich ist zu verstehen, dass es um die Zukunft aller geht!«
»Wir werden morgen mit den Nordmarschern zusammen beraten«, versprach Mumme Ipsen in versöhnlichem Ton.
Das Klopfen auf den Schulbänken war einstimmig. Zufrieden nahm Sönke Hansen seine Karte wieder herunter und rollte sie zusammen. Nach dem Fiasko am Vortag war diese Versammlung besser gelaufen, als er zu hoffen gewagt hatte.
Am nächsten Morgen stand die Hallig unter Wasser. Der Starkwind wehte aus West. Als Hansen aus der Tür blickte, war die Ack voll mit Rinder- und Schafdung: Die Tiere waren in der Nacht noch in die Ställe geholt worden. Dann war das Muhen und Blöken, das er gehört hatte, doch kein Traum gewesen. Er konnte dankbar sein, dass er es am Abend noch nach Hilligenlei zurück geschafft hatte.
Hansen gab einen tiefen Seufzer von sich, ging in die Gaststube zurück, wo der Wirt aufräumte, und setzte sich ans Fenster, um hinauszuschauen. »Wird es noch weiter steigen?«, fragte er.
Der Wirt stellte den gesäuberten, blau glänzenden Spucknapf in der Ecke ab und kam zu ihm. »Nein. Es läuft schon ab. Der Wind hat gedreht und flaut auch ab. Landunter im Mai, das muss wirklich nicht sein. Da hat man endlich alle Tiere auf der Weide, und dann muss man sie wieder hereinholen! Gut, dass wir die Ditten schon fertig hatten.«
Hansen nickte mitfühlend. Der Rinderdung musste auf dem Warfabhang ausgebreitet, getrocknet und zu handlichen Vierecken ausgestochen werden, um als Heizmaterial zu dienen. Nicht auszudenken, wenn Salzwasser darüber ging! »Das wäre wohl im wahren Sinne Mist gewesen.«
»Kann man so sagen.«
Missmutig betrachtete Hansen die kurzen Wellen, die auf der Leeseite kraftlos auf das Gras am Fuß der Warf patschten.
»Fremde bekommen leicht Angst, wenn überall Wasser ist. Heute ist es harmlos.«
Hansen schüttelte den Kopf. Angst hatte er nicht, vielmehr fühlte er sich vom Wasser behindert, jetzt, wo der Erfolg schon mit Händen zu greifen war.
»Geh doch auf ein Schwätzchen zum Lehrer hinüber«, schlug der Wirt vor. »Carsten freut sich, wenn er mal mit einem Studierten reden kann.«
»Darf man ihn denn stören? Vielleicht schreibt er an einem Aufsatz?«, erkundigte sich Hansen und stand trotzdem hoffnungsvoll auf.
»Das macht gar nichts«, antwortete der Wirt ungerührt. »Ohne Landunter hätte er jetzt Unterricht.«
»Ja, dann É«, sagte Hansen erfreut.
»Es ist offen«, rief eine Stimme, als Hansen an der Tür zur Lehrerwohnung klopfte, und als diese unvermittelt aufgezogen wurde, wehte der Wind ihn in den Flur hinein.
»Hoppla«, sagte Carsten Boysen lächelnd. »Sie kommen ja hereingestürmt wie ein Schüler, der einen Einser abholen will.«
»Haben Sie denn solche Schüler?«, fragte Hansen.
»Natürlich. Wir haben begabte und weniger begabte, nicht anders als auf dem Festland.«
»Störe ich?«
»Keineswegs. Ich habe unterrichtsfrei, wie Sie sich sicherlich denken können.«
»Ich habe Wirk kennen gelernt«, erzählte Hansen und folgte dem Lehrer in die Wohnstube, vorbei am Klassenzimmer, dessen Tür aufstand und den Blick auf mindestens zehn Schulpulte freigab. »So viele Schüler haben Sie?«, erkundigte er sich erstaunt.
»Zweiundzwanzig in diesem Jahr. Wirk, tja É« Boysen wiegte zweifelnd den Kopf, während er einladend auf einen Stuhl am Tisch zeigte und selbst gegenüber Platz nahm. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.05.2005