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Ich habe gesehen, was ihr unter regeln versteht. Ihr bekämpft weder die Ameisen, die den Halligboden aufwühlen, noch tut ihr etwas gegen die Abschälung der Grasnarbe durch angeschwemmten Sand. Ihr grabt nicht einmal Rinnen, damit das Salzwasser ablaufen kann, das nach Landunter stehen bleibt. Es gibt zu viele Sicken. Und Dungkuhlen, die zu nah am Rand der Warfen angelegt sind, habe ich übrigens auch gesehen.«
Hansen verzichtete darauf, auf Norderhörn zu verweisen, um den Ratmann, der dort wohnte und die geradezu fahrlässig angelegte Dungkuhle nicht verhindert hatte, nicht noch mehr zu reizen. Er legte eine kleine Pause ein, um versöhnlicher fortzufahren: »Es gäbe noch vieles, womit ihr selbst die Sicherheit für euch und eure Familien und das Vieh verbessern könntet. Aber davon will ich jetzt nicht reden.«
»Gut, gut, dann hör endlich auf«, brüllte das Jungvolk, das nur noch längs der Wand Platz gefunden hatte, wie aus einem Mund. Den Ton gab Friedrichsens Sohn an. »Nachschub, Rouwert, wir haben Durst!«
»Aber das Allerwichtigste ist die Steinbedeckung der Kanten«, verschaffte sich Hansen wieder mit erhöhter Lautstärke Gehör. »Und dazu gehört selbstverständlich die Durchdämmung aller Priele.«
Für einen Augenblick trat Stille ein. Danach setzten die Proteste mit einer solchen Lautstärke und Intensität ein, dass Hansen die Worte in der Kehle stecken blieben. Er fragte sich, ob der Widerstand im Vorfeld organisiert worden war, und ging zu seinem Platz zurück, um den Bierkrug in Empfang zu nehmen, den der Wirt ihm unaufgefordert gebracht hatte. Während er trank, ließ er seine Blicke durch den Saal schweifen.
Mit Widerstand war zu rechnen gewesen. Allerdings würde man normalerweise erwarten, dass ein Ratmann die Hitzköpfe beschwichtigte und sich nicht selbst zum Wortführer eines Aufruhrs machte.
Der Schiffsführer der Rüm Hart hob die Hand. Plötzlich wurde Friedrichsen lebendig und erteilte ihm mit einer Selbstverständlichkeit das Wort, als ob er schon die ganze Zeit die Versammlung geleitet hätte.
Während der Mann sich erhob, war es mit Hansens zur Schau getragenen Ruhe plötzlich vorbei. Der Schiffsführer stellte offenbar das Ass in Friedrichsens Ärmel dar.
»Durchdämmung ist nicht möglich«, sagte der Schiffer knapp. »Wir Friesen sind Schiffer seit alters her, keine Bauern. Die Priele müssen offen bleiben!«
»Gut gesprochen, Hans!«, rief Friedrichsen in das hämmernde Klopfen vieler Fingerknöchel hinein. »Wir Friesen sind Schiffer! Wir brauchen das Wasser. Durchdämmung von Prielen kommt nicht in Frage! Da hast du deine Antwort, Deichbauer vom Binnenland. Die Versammlung ist beendet!«
Die Männer wichen Hansens Blicken aus, als er sich den Weg zur Tür bahnte. Friedrichsen würde den Hinauswurf als seinen Erfolg verbuchen, aber das kümmerte Hansen nicht sonderlich. Wenn er bliebe, würden alle sich auf die Seite des Ratmanns stellen, das wusste er. Nur wenn sie unter sich waren, kämen vielleicht einige Einsichtige zu Wort.
Zurück in seinem Zimmer, öffnete er die kleine Luke und ließ frische Luft herein. Am Horizont war ein orangegelber Streifen erkennbar, wo die Sonne schon vor einiger Zeit untergegangen war. Er setzte sich an den kleinen Tisch und konnte sich gar nicht satt sehen am Spiel der Wellen an der verfallenden Steinkante.
Später, da musste es schon mitten in der Nacht sein, denn in der Schankstube war es still und dunkel, stieg Hansen leise die Treppe hinunter.
Er suchte sich einen Platz auf dem Warfabhang und setzte sich ins Gras. Die Luft war lau wie im Hochsommer, und der Wind hatte sich fast ganz gelegt. Über sich sah er Milliarden von Sternen. Irgendwo blökte ein Schaf im Schlaf. Der Duft von Gras und erstem süßem Klee stieg in seine Nase, und dazwischen ein Hauch von Meer, vielleicht von Muscheln, die starben, um jüngeren Platz zu machen.
Und er war fest entschlossen, dieses Stückchen Land für seine Bewohner zu retten. Zuversichtlich lächelte Hansen in die Dunkelheit.
Kapitel 4
Am nächsten Morgen regnete es. Sönke Hansen, der am frühen Morgen eine schriftliche Botschaft an den Ratmann von Langeness, Mumme Ipsen, verfasst hatte, mit dem Inhalt, dass er um eine Zusammenkunft der Langenesser bäte und am Abend käme, hatte bis zum Nachmittag Zeit. Sein Brief ging durch die Vermittlung des hilfsbereiten Wirts auf die Reise.
Als Hansen nach dem Frühstück vor die Tür trat, tröpfelte es nur noch. »Es kommt Wind auf«, bemerkte Rouwert Wollesen hinter ihm und betrachtete kritisch den Himmel über Hooge. »Mit dem Regen ist es erst einmal vorbei.«
Hansen nickte ihm zu und machte sich auf den Weg. Die Peterswarf, die Rouwert Alte Peterswarf genannt hatte, da sein Besitzer sich an anderer Stelle ein neues Haus gebaut hatte, interessierte ihn mächtig. Seitdem er sie gesehen hatte, ging eine Idee in seinem Kopf herum, die er überprüfen wollte.
Er sprang auf den Sandstreifen und wanderte auf der Seeseite um die zerstörte Warf herum. Pfähle waren in den Schlick geschlagen worden, um zu verhindern, dass er abrutschte und brauchbares Baumaterial in der See verschwand. Von einem Nebengebäude war schon alles bis auf ein paar halbe Mauersteine und einige verrottete Ständer vom Wasser abgetragen worden.
Hansen bahnte sich durch die Trümmer seinen Weg nach oben und setzte ihn auf der Landseite der Warf fort, wo die Grasnarbe unbeschädigt war. Sein Entschluss festigte sich: Er würde im Wasserbauamt den Vorschlag machen, die Alte Peterswarf in den neuen Steindeich einzubeziehen.
Die Peterswarf wäre der ideale Standort für ein Leuchtfeuer. Und stand hier erst einmal ein kaiserlicher Leuchtturm, würde nie wieder jemand auf die Idee kommen, die Hallig aufzugeben.
Der Wirt hatte Recht gehabt: Als Hansen aus dem Leeschutz der Warf heraustrat, zerrten heftige Böen an seinen weißen Hemdsärmeln. Der Wind frischte jetzt schnell auf. Über ihm jagten die Wolken in einzelnen Fetzen dahin, und draußen auf See sah er schon Schaumkronen.
In einer der Uferbuchten lag ein dunkler Gegenstand, den Hansen zuerst für einen Bootsrumpf hielt und erst aus der Nähe als Robbe erkannte, ein großes, gut ernährtes Tier. Er schnupperte angewidert. Es stank ziemlich.
»Die Badeleute von Föhr hätten für solch einen Bullen als Trophäe eine Menge bezahlt, schätze ich«, sagte eine muntere Stimme.
Hansen fuhr zusammen und drehte sich um. Im Windschutz der Uferkante kauerte ein Mann, der älter war, als seine jugendliche Stimme vermuten ließ. Er sog an einer offenbar kalten Pfeife und trug sonderbarerweise einen Zylinderhut.
»Aber solche kriegen sie auf den Seehundsbänken nicht. Zu alt, zu klug, zu gewitzt.«
»Woher wissen Sie das?« Hansen hatte plötzlich Hemmungen, den Mann mit Du anzusprechen. Er gab sich nicht wie andere Halligleute. Dann dämmerte ihm, wer er war.
»Ist mein Beruf. Bin Lehrer.«
»Habe ich gerade begriffen«, sagte Hansen. »Erfreut. Sönke Hansen ist mein Name.«
»Das habe ich mir gedacht. Ich bin Carsten Boysen. Die Robbe hat eine tödliche Verletzung erlitten, wahrscheinlich von einem der großen Dampfschiffe da draußen. Ich vermute, das ungewohnte Geräusch der Maschine verwirrt die Tiere, und dann geraten sie in die Schiffsschraube.«
»Tatsächlich«, staunte Hansen. Weniger über den seltsamen Tod einer Robbe als darüber, dass der Lehrer sich so einleuchtende Gedanken darüber machte. »Und dann wird der Kadaver so weit hereingetragen?«
Boysen stemmte sich in die Höhe und kam zu Hansen herüber. »Sehen Sie da draußen?«
Hansen folgte seinem ausgestreckten Finger, der auf die Südspitze von Amrum zeigte, die plötzlich aus dem Dunst aufgetaucht war. Jetzt war das höhere Ufer im hellen Sonnenlicht vor den dunklen Wolken im Hintergrund so deutlich erkennbar, als könnte man geradewegs hinüberspazieren.
»Zwischen Amrum und Hooge läuft der Flutstrom in Richtung auf das Festland, an der Südspitze von Amrum besonders schnell. Deswegen stehen dort im Sommer gern die Makrelen. Und Tiere, die es aus irgendeinem Grund da draußen erwischt, werden häufig hier angelandet. Nicht nur Robben, auch Seevögel: Eiderenten, Trauerenten É«
»Sie befassen sich als Privatgelehrter mit Tieren«, erkannte Hansen voller Hochachtung angesichts eines Fachgebietes, das für ihn ein Buch mit sieben Siegeln war.
»Aller Art«, bestätigte der Lehrer. »Privatgelehrter ist zu viel gesagt. Aber ich schreibe hin und wieder Aufsätze zum Thema.«
»Ach so«, murmelte Hansen beeindruckt.
Carsten Boysen zog eine Uhr aus der Westentasche und klappte den Deckel auf. »Ich muss zum Unterricht. Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf: Achten Sie auf das auflaufende Wasser. Der Wind nimmt zu. Sehen Sie, Lorenz Friedrichsen hat seine Schafe schon auf die Warf geholt für den Fall, dass es Landunter gibt.«
Hansen nickte. Auf dem Abhang der neuen Warf, deren Kleiboden sich noch gar nicht ausreichend verfestigt haben konnte, hatte sich eine Schafherde verteilt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.05.2005