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Der Hütejunge stand untätig daneben und sah zu.
Verdammt, dachte Sönke Hansen und spürte wieder die altbekannte Furcht.
»Sind das Bullen?«, erkundigte er sich argwöhnisch und blieb in sicherer Entfernung stehen.
»Wo sind Bullen?« Friedrichsen drehte sich um sich selber und spähte irritiert über die Weiden.
Der junge Mann, der Friedrichsen wie aus dem Gesicht geschnitten war, grinste frech. »Er meint unsere Starken, Vater.«
Friedrichsen zog die Augenbrauen in die Höhe und musterte Hansen ungeniert. »Du bist der Gast auf Hilligenlei, der fischen und jagen will, stimmt's? Solange du meine Starken nicht mit Seehunden verwechselst É Die Starken sind neugierig.«
Hansen nickte beschämt. Wieder einmal hatte ihn seine Angst vor Rindviechern, die ihn seit seiner Kindheit begleitete, übermannt. »Wenn du Tete Friedrichsen bist, würde ich gerne mit dir als Ratmann sprechen. Ich bin nicht nur Gast, ich bin auch dienstlich hier.«
»Dienstlich«, wiederholte Friedrichsen und runzelte argwöhnisch die Stirn. »Ich wüsste nicht, welche dienstlichen Angelegenheiten jemanden vom Festland herführen könnten. Wir hier sind ruhige Menschen, die keinem etwas zuleide tun.«
»Ich auch nicht. Ich bin Deich- und Wasserbauer«, versuchte Hansen ihn zu beruhigen, stellte aber fest, dass sich das zerknitterte Gesicht des Ratmanns nur wenig glättete.
»Deichbauer. Was soll das denn schon wieder? Na ja, ich bin hier fertig, mein Junge macht den Rest. Wir können dein Anliegen auf dem Weg durchschnacken.«
Als sie an der Nordkante der Hallig zur Warf zurückstapften, stellte Hansen sich ausführlicher vor. »Ich komme vom Preußischen Wasserbauamt in Husum, ich bin dort Bauinspektor. Ich möchte mit euch Halligleuten darüber reden, was ihr von Baumaßnahmen zum Schutz der Hallig haltet.«
»Soso«, sagte Tete einsilbig. »Du bist aber doch kein Preuße?«
»Nein, und eben deswegen bin ich hier.«
»Wie ein Studierter siehst du auch nicht aus.«
Petrine Godbersen hätte dem Ratmann sofort zugestimmt. Hansen, der, abgesehen von den Stiefeln, losgelaufen war wie am Morgen, nahm es mit Humor. »Wie müsste so einer denn aussehen?«, erkundigte er sich lächelnd.
»Er muss Respekt einflößen«, sagte Friedrichsen mit verbissener Miene. »Man muss ihm ansehen, dass er mehr gelernt hat als unsereiner. Carsten Boysen lässt sich nie ohne Zylinderhut sehen.«
»Wer ist Carsten Boysen?«, fragte Hansen geduldig.
»Der Lehrer. Ein guter Lehrer. Er hat die Kinder im Griff. Kinder müssen Respekt lernen, sagt er, und da hat er Recht. Taugenichtsen lässt er nichts durchgehen. Es kommt nur selten vor, dass er sich an einem der Burschen die Zähne ausbeißt.« Friedrichsens abfälliger Seitenblick ließ deutlich erkennen, dass er einen Kopf ohne Bedeckung und ein kragenloses Hemd bei einem amtlichen Inspektor nicht akzeptabel fand.
»Ich bin studierter Wasserbauer«, bekräftigte Hansen voller Nachsicht. Manche Menschen brauchten etwas länger, um sich zu überzeugen. »Und Friese.«
»Tatsächlich«, brummte Friedrichsen und schien geneigt, Milde walten zu lassen. »Na gut. Du könntest morgen im Krug vortragen, was du auf dem Herzen hast, da ist Verlosen im Gastraum.«
Hansen glaubte, sich verhört zu haben. Vom Amt aus gesehen war es ein beleidigendes Angebot. »Nein«, sagte er entschlossen. »So nicht, Ratmann!«
Friedrichsen starrte ihn mit offenem Mund an. »Warum nicht? Die meisten Männer werden da sein, und was du erzählen willst, geht alle an!«
»Der Schutz der Hallig ist eine ernsthafte Angelegenheit. Den möglichen Tod von Menschen bespreche ich nicht zwischen Würfeln und Bierkrügen.«
»Tja«, sagte Friedrichsen bedächtig und lupfte seine Schirmmütze, um sich am kahlen Kopf zu kratzen, »wenn du es so siehst É Dann lasse ich die Männer benachrichtigen, dass sie heute Abend im Krug zusammenkommen sollen.«
»Das ist schon besser. Aber wollen wir beide die Angelegenheit nicht doch lieber vorher beschnacken?«, drängte Hansen sanft. »Du als Ratmann bist ja eine Respektsperson und solltest vor den anderen Bescheid wissen.«
Friedrichsen ging inzwischen in der Beobachtung der Mühle auf. Sie hatte sich zum Wind gestellt, und ihre Flügel drehten sich sacht. »Es kommt Wind auf. Ich muss mich darum kümmern, dass ich mein Schrot gemahlen bekomme. Wir sehen uns heute Abend.« Ohne Hansen weitere Beachtung zu schenken, stapfte er die Ack nach oben.
Unschlüssig zupfte Hansen an seinen Hosenträgern, während er Friedrichsen nachsah. Der Mann schien die Tragweite der Planung nicht zu begreifen. Vor allem wunderte ihn, dass er nicht mal neugierig war. Dann folgte er dem Ratmann, der längst außer Sicht war, nach oben und suchte sich zwischen den Häusern den Weg zur Westseite der Warf.
Die Hast, mit der Friedrichsen den Wind als Vorwand benutzt hatte, um sich dem Vorgespräch mit Hansen zu entziehen, gab ihm zu denken.
Friedrichsens herabsetzende Worte im Ohr, schien es Hansen für seinen Vortrag am Abend angebracht, im Anzug zu erscheinen. Zum ersten Mal war er dankbar für den Strohhut.
Die Gespräche verstummten für einen Augenblick, als Sönke Hansen in der Tür erschien und sich umsah. Um die zwanzig Männer waren erschienen, der Schankraum war verraucht von vielen Pfeifen, und in der Luft lagen Dünste von Bier und Schweiß. Während Hansen seinen Hut auf einem Tisch deponierte, bemerkte er, dass auffallend viele junge Männer gekommen waren.
Als er die Karte mit den Halligen Nordmarsch, Langeness und Butwehl, das schon lange fast zu einem Teil von Langeness geworden war, mit vier Nadeln aus dem Nähkästchen der Wirtin an die Wand heftete, ging ein Raunen durch den Raum, das zu lautem Gerede anschwoll. Hansen sah sich nach Friedrichsen um, aber der hatte offenbar keine Absicht, die Versammlung zu leiten. Er saß mit fünf anderen an einem Tisch, hatte eine spöttische Miene aufgesetzt und zwinkerte gelegentlich jemandem zu. Hansens Blick mied er.
»Der Staat hat beschlossen, den Schutz der Halligen jetzt ernsthaft in Angriff zu nehmen«, verkündete Hansen, nachdem er sich selbst und sein Amt in ziemlich lautem Ton hatte vorstellen müssen.
»Habe ich in meinem Leben schon öfter gehört.« Ein weißhaariger alter Mann grinste zahnlos und schob seinen Priem von einer Wangenseite zur anderen.
»Jetzt ist es anders«, entgegnete Hansen. »Berlin und Schleswig verlangen nach Plänen, und ich bin hier, um sie mit euch zu besprechen.«
»Wann wollen sie uns denn von der Hallig vertreiben?«, fragte Friedrichsen boshaft. »In diesem Sommer schon, oder hat es Zeit bis zum nächsten?«

Hansen ließ seinen Blick nachdenklich auf dem Ratmann ruhen, dessen hageres Gesicht jetzt tiefe Falten zeigte, die ihm einen scharfen, wachsamen Ausdruck verliehen. Daher wehte also der Wind. Friedrichsen suchte die Konfrontation.
»Man sieht die Sache mittlerweile anders«, sagte Hansen ruhig. »Es geht jetzt um Buhnen zur Beruhigung des Wassers und um die Befestigung der Halligkanten.«
»Ohne neue Vermessung?« Friedrichsen schaukelte auf seinem Stuhl nach hinten, wobei er sich flüchtig nach dem alten Mann umsah.
Es war wie eine Aufforderung. Hansen wunderte sich nicht, als der Alte sich die Kehle freihüstelte, um schließlich mit schriller Stimme loszulegen.
»Genau! Als sie das letzte Mal vermessen haben, kam die Rechnung für die Vermessung vierzehn Jahre später von der Husumer Amtskasse!«
»Hört, Husum«, warf Friedrichsen ausdruckslos ein. »Husum bedeutet für die Halligen Alarm É«
»Und die Halligleute sollten sie bezahlen!«, fuhr der Alte leidenschaftlich fort. »Da gab es manchen, der sich überlegte, ob er sich aufhängen sollte.«
Auf Beschwerden dieser Art hatte Hansen sich vorbereitet. »Du vergisst zu erwähnen«, konterte er geschickt, »dass eine königlich dänische Resolution euch die Kosten erließ.«
»Das war wohl auch mehr als gerecht«, warf Friedrichsen in rechthaberischem Ton ein und ließ die Stuhlbeine mit einem Knall auf dem Fußboden aufschlagen. »Und das war ja noch nicht alles: Obwohl jedermann weiß, dass Jahr um Jahr Land im Wasser versinkt, blieben die Steuern so hoch, wie sie vorher waren. Wir zahlen Steuern für Land, das wir nicht besitzen, und das ist eine Schweinerei!«
»Das ist den Behörden nur einmal passiert«, entgegnete Hansen. »Wo du das gerade zur Sprache bringst, Ratmann, muss man sich auch fragen, warum ständig Land verloren geht. Es ist ja nicht allein die See schuld. Ihr selber wärt durchaus in der Lage, etwas dagegen zu tun.«
Friedrichsen erhob sich, stemmte die Fäuste auf die Tischplatte und richtete seine blauen Augen mit hartem Ausdruck auf den Bauinspektor. »Lass uns in Ruhe, Hansen! Wir brauchen keine Ratschläge von Klugschnackern aus der Stadt. Halligleute regeln seit Jahrhunderten ihre Angelegenheiten selbst.«
Die meisten nickten bedächtig. Hansen entschloss sich zum Angriff. Sie wollten es nicht anders. »Ich habe mich gestern und heute etwas umgetan. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.05.2005