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Über eine »Mistel« gestolpert

Empfang in der Catterick-Kaserne: Veteran John Jeffries erzählt vom Krieg

Bielefeld (WB). 17. September 1944. Die Operation »Market Garden« läuft an. Wäre die Luftlandung bei Arnheim geglückt, hätten Engländer und Amerikaner wohl den »Wettlauf nach Berlin« gegen die Rote Armee gewonnen - mit weitreichenden Folgen für den Osten Deutschlands. Der englische Fallschirmjäger John Patrick Jeffries (83) war jetzt zu Besuch in Bielefeld.

»Man schoss mir quer durchs Gesäß - da war der Krieg für mich zu Ende«, berichtet der hochdekorierte Veteran, der in Afrika, Italien und Frankreich kämpfte und jetzt via Bielefeld zu Gedenkfeiern und Paraden nach Holland weiterreiste. »Meinem Sohn habe ich nie viel erzählt, aber mein Enkel will jetzt alles wissen.«
Jeffries wurde damals kurz von einem holländischen Arzt behandelt, dann waren die Deutschen da. Kriegsgefangen! »Man brachte mich ins Lager XI B bei Fallingbostel, wo ich mir aussuchen durfte, ob ich einen Wald roden oder in einer Zuckerfabrik arbeiten wollte. Ich entschied mich für letzteres, für den vermeintlich leichteren Job.« Allein unter Frauen! »Alle haben mich ausgelacht.«
Und mit einem Aufseher, den die Wehrmacht eigens für Funker Jeffries abstellte. »Der Mann war sehr nett und warnte mich, es sei etwas im Busch. Die Frauen nämlich, ausnahmslos Zwangsarbeiterinnen aus Polen, Russland und der Ukraine, konnten einen Wächter überhaupt nicht gebrauchen.« Jeffries hatte ein Problem: »Den Wächter wurden sie ja nur los, wenn sie mich ÝbeseitigtenÜ.« Der düstere Plan sah irgendetwas mit der übel schwarzfärbenden Melasse auf einem edlen Körperteil vor, aber der schmächtige Jeffries, bewaffnet nur mit einem Zuckersack, kämpfte wie ein Löwe gegen »Brunhilde«, die für die Aktion ausersehene russische Walküre, und heftete einen weiteren glorreichen Sieg an Englands Fahnen.
Zur Ruhe kam der 23-Jährige dennoch nicht. »Täglich machte die Artillerie mehr Krach, und nach drei Monaten im Lager sollten wir verlegt werden. Auf dem Marsch bin ich mit einem Kameraden ausgerissen; vier Tage lang irrten wir ohne Essen und Trinken durch unbekanntes Gelände.«
Auf dem Weg zur Front, wo sie sich den eigenen Armeen anzuschließen gedachten, stolperten die beiden Briten über etwas, was kaum ein Deutscher je zu Gesicht bekommen hat: »Auf einer künstlichen Lichtung im Wald standen lauter Flugzeuge ohne Propeller.« Verwundert, aber glücklich ob des unverhofften Schlafplatzes auf dem vermeintlichen Flugzeugfriedhof, wollten Jeffries und sein Begleiter in einen der stählernen Rümpfe kriechen - als sie urplötzlich in Gewehrläufe blickten.
Die »Mistel«, Deckname »Beethoven«, war eine entkernte Junkers-88-Maschine, die, je nach Version, unter eine Focke Wulf 190 oder eine Messerschmitt gehängt wurde, nachdem man sie mit 3,8 Tonnen Sprengstoff gefüllt hatte. Am Einsatzort wurde die fliegende Bombe ausgeklinkt und funkgesteuert ins Ziel gebracht. Nur 250 Exemplare wurden je konstruiert.
Jeffries konnte das egal sein - nun war er erneut Prisoner of War. »Die Luftwaffe, die uns geschnappt hatte, verhielt sich anständig, aber die Heeressoldaten, die uns in einem kleinen Ort begegneten, waren ausgesprochen unfreundlich.« Dem Engländer flog das Wasser, in dem sich ein Landser gerade gewaschen hatte, ins Gesicht.
Wenige Tage später langte er im Lager XI A bei Magdeburg an. »Mittlerweile hatten deutsche und englische Stellen vereinbart, einen Arzt und einen Funker per Fallschirm über dem Lager abzusetzen«, erinnert sich Jeffries. Das Tandem sollte von Lager zu Lager reisen und sich bei den Insassen nach dringend benötigten Gütern - Lebensmitteln, Medikamenten, sogar Transportmitteln -Ê erkundigen. Offensichtlich war einigen Militärs klar: Der Gegner ist bald hier, besser, wir tun seinen kriegsgefangenen Leuten etwas Gutes.
Irgendjemand aber bekam kalte Füße, und der Funker wurde noch in der Luft erschossen. »Nun sollte ich einspringen«, sagt Jeffries und zieht ein sorgsam in Klarsichthülle verpacktes Dokument aus dem Jackett. »Der englische Kriegsgefangene SGMM [Signalmann] Jeffries hat die Berechtigung, sich im [handschriftlich: Kriegsgefangenen] Lager des Truppen Übungs Platzes Altengrabow [bei Magdeburg] frei zu bewegen.« Folgt Unterschrift (unleserlich).
Dass sich fremde Kommandanten weigerten, das Schreiben anzuerkennen, hatte keine Bedeutung mehr, denn am 4. Mai kapitulierte Norddeutschland. Für einen Urlaub von 13 Wochen kehrte John Jeffries nach England zurück, bevor der erfahrene Soldat nach erneuter Grundausbildung (»eine Frechheit!«) nach Lüdenscheid abkommandiert wurde. In ein Militärtelegrafenamt. In dem lauter Frauen arbeiteten. Fraternisieren war streng verboten.
Aber von Bertha Gerlach, »a beautiful girl«, schwärmt Jeffries noch heute - nicht nur wegen ihres phantastischen Kartoffelsalates. »Wir wollten heiraten, aber die Army hat mich strafversetzt.« Und weil ihn die Vorgesetzten immer nur geschurigelt haben, quittiert John Jeffries aus Richmond/North Yorkshire zum 1. Januar 1947 den Dienst und wird Künstler und Lehrer.
Am Dienstag lesen Sie: Schlussstrich der Justiz - ein Kriegsverbrecherprozess am Landgericht.

Artikel vom 07.05.2005