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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Der Name des morgigen Sonntags Exaudi ist abgeleitet vom ersten Wort des lateinischen Leitverses zu seinem Eingangspsalm: »Exaudi, Domine, vocem meam, qua clamavi ad te« - »Herr, höre meine Stimme, wenn ich zu dir rufe.« Dieser Sonntag nimmt die Situation zwischen Himmelfahrt und Pfingsten in den Blick: Die Jünger Jesu sind zwar schon von ihrem Herrn verlassen, aber sie sind noch nicht erfüllt vom neuen lebenschaffenden Geist. Das ist nicht nur eine historische, sondern eine wiederkehrende Erfahrung, die es immer aufs Neue auszuhalten gilt. Zwischen dem, was Gott bereits getan oder zugesagt hat, und dem, was noch aussteht, klafft eine Lücke. Dieses Grundmuster zieht sich durch die gesamte Bibel, durch das ganze Leben des einzelnen, durch die Geschichte der Kirche und sogar der Menschheit.
Wie Weihnachten erst auf die lange Adventszeit folgt, so geht dem Pfingstfest die Woche des Sonntags Exaudi voraus. Darin kommt zum Ausdruck: Es ist etwas versprochen, aber es ist noch nicht eingetreten. Gott hat zugesagt, Gebete zu erhören und den Seinen treu zur Seite zu stehen; dennoch kann es heißen: »Herr, wie lange willst du mich ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir« (Ps. 13, 1)? Niemand weiß im Voraus, wie Gott sein Werk vollenden wird; es gilt seiner Verheißung zu vertrauen.
Diese Spannung kann einen Menschen schier zerreißen. Wohl recht oft wird sie als ein Vakuum empfunden. Da schleicht sich das Mißtrauen ein, das, was man als Kind einmal geglaubt hat, sei womöglich nicht wahr. Von Gott ist wenig zu spüren, sollten da nicht die Vielen doch recht haben, die überhaupt nicht mehr an ihn glauben und trotzdem ihr Leben einigermaßen meistern? Ist nicht das Christentum vielleicht überhaupt passé, unnötiger Ballast, der nicht mehr in die Zeit paßt und noch dazu Geld kostet?
»Die Unsichtbarkeit (Gottes) macht uns kaputt«, empfand bereits Dietrich Bonhoeffer als ganz junger Theologe unter den Studenten der Technischen Hochschule Hannover.
Exaudi bedeutet: Christus schenkt reinen Wein ein über die Möglichkeit, an seiner Sache irre zu werden, mit ihm nicht mehr zu rechnen, die Bindung an ihn preiszugeben. Es versteht sich nicht von selbst, daß Menschen Christen sind, und noch weniger, daß sie es bleiben.
Das jedoch ist nur die halbe Wahrheit. Denn im Evangelium dieses Sonntags heißt es: »Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird Zeugnis abgeben von mir« (Joh. 15, 16). Dieses Wort ist auch über die Zeiten gesprochen und besagt, daß die Exaudi-Situation in Wirklichkeit nicht der Sonnenuntergang der Sache Jesu Christi ist, sondern deren Morgenröte.
Wer sich im Glauben auf einer Durstrecke befindet und mehr Zweifel als Gottesnähe kennt, darf davon ausgehen, daß sich die Brunnen wieder mit lebendigem Wasser füllen werden. In Perioden der inneren Leere empfangen wir unbemerkt etwas Neues. Das gilt aber auch von der Christenheit insgesamt, und das erlaubt uns, deren gegenwärtige Situation zwar ohne Illusionen, aber auch ohne Resignation zu sehen.
Zur Zeit sind die großen christlichen Kirchen in Westeuropa eher von Kraftlosigkeit befallen. Aber statt sich dadurch entmutigen zu lassen, gibt es gute Gründe, der Zukunft mit Hoffnung entgegenzublicken. Denn im geistlichen Bereich ist es wie sonst auch im Leben. Ein Umbruch ist eben auch der Anfang eines Umbaus, einer Veränderung zu neuem Leben, das dann an die Stelle des alten tritt.

Artikel vom 07.05.2005