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»Wir Älteren müssen den Jüngeren helfen zu verstehen«

Noch können letzte Zeitzeugen des Kriegsendes den Heutigen berichten

Von Dirk Schröder und Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Etwa 50 Millionen Tote waren eine schreckliche Bilanz, als General Wilhelm Keitel am 8. Mai 1945 in Karlshorst die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete.
8. Mai 1945: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet Deutschlands Kapitulation.

Einen Tag zuvor hatte dies schon General Alfred Jodl im US-Hauptquartier in Reims getan. Die Urkunde vom Ende des Zweiten Weltkriegs liegt heute, 60 Jahre danach, in Washington.
»Noch sind die Menschen, die diese Ereignisse erlebt haben, unter uns und können erzählen, wie es war«, sagt TV-Historiker Guido Knopp und empfiehlt sein Buch »Die letzte Schlacht« (Hoffmann und Campe-Verlag). Auch die Leser dieser Zeitung haben mit ihren persönlichen Berichten zu zahlreichen Beiträgen in den Lokalteilen und in der Gesamtausgabe des WESTFALEN-BLATTES beigetragen.
Das Erinnern wird an diesem Wochenende noch einmal auf allen Kanälen Hochkonjunktur haben. Und wenn am Dienstag in Berlin das Holocaust-Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Juden eingeweiht wird, wird der damals entfesselte Horror erneut weltweit Schlagzeilen machen.
Der Endkampf um Berlin, der am Morgen des 16. April 1945 begann, gehört zu den schrecklichsten und dramatischten Momenten deutscher Geschichte. 190 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Was von der ehemaligen Reichshauptstadt blieb, war das größte zusammenhängende Ruinengebiet Deutschlands und Europas. Antonia Meiners zeigt in ihrem Bildband »Berlin 1945« (Nicolai-Verlag) aus Luftschutzkellern kletternde Menschen, Sowjetische Artillerie- und Panzereinheiten in der Frankfurter Allee und rote Fahnen auf der Quadriga.
Deutsche und vor allem viele Russen, die dabei gewesen sind, kommen bei Knopp ausführlich zu Wort. Viele erzählen erstmals ihre eigene, ganz persönliche Geschichte. Ihre traumatischen Erlebnisse hat auch Ilse Aigner nie vergessen. »Je älter ich werde, desto mehr träume ich von dieser Zeit«, vielleicht fange die richtige Auseinandersetzung damit erst jetzt wirklich an.
Eine Freundin wurde in der Wohnung tödlich troffen, als Jutta Petenati neben ihr stand. Wenn sie heute von Katastrophen, Helfern und Notfallseelsorgern im TV erfährt, muss die alte Frau oft denken: »Wir hatten keine Zeit, so etwas zu verarbeiten.«
Der Jahrestag markiert eine gewandelte Form des Umgangs der Deutschen mit der eigenen Vergangenheit. Bis in die 60er Jahre hinein spielte das Gedenken an den 8. Mai in West-Deutschland - die DDR verstand sich ohnehin als ein Hort der Antifaschisten - keine sonderliche Rolle.
So wurde der in die USA abgewanderte Raketenpionier Wernher von Braun bewundert. Dass die von ihm geschaffene »Wunderwaffe« V 2 nur möglich war mit der Sklavenarbeit von Häftlingen in den Stollen des KZ Mittelbau Dora in Thüringen, wurde übersehen. Viele wollten an den selbst verschuldeten Untergang nicht erinnert werden. Der damalige Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) sprach für eine Mehrheit: »Niederlagen feiert man nicht.«
Spätestens am 8. Mai 1985 setzte Richard von Weizsäcker mit seiner berühmten Rede neue Maßstäbe. Unmissverständlich wies er alle Versuche zurück, die Verbrechen zu beschönigen oder zu entschuldigen. Den 8. Mai würdigte er ausdrücklich als einen »Tag der Befreiung«. Vor allem aber gab er diesen Hinweis: »Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.« Bald würden die Nachgeborenen ihr Wissen über das »Dritte Reich« nur noch Geschichtsbüchern entnehmen.
An diesem Sonntag muss ser heutige Bundespräsident Horst Köhler die passenden Worte finden. Im Berliner Reichstag kommen Bundestag und Bundesrat zu einer Sondersitzung zusammen. Auf seine Rede, eine der wichtigsten seiner bisherigen Amtszeit, bereitet sich Köhler schon seit Monaten vor. Viele werden ihn mit Weizsäcker vergleichen.

Artikel vom 05.05.2005