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Die Hunnenswarf im Osten schied für Hansens Zwecke aus. Er musste, um die Gefahren durch die Natur selbst beurteilen zu können, ganz im Westen wohnen. Von dort kamen die Stürme und die Wellen, die an der Hallig nagten. Trotzdem brummte er zustimmend.
Bald darauf segelte der Schiffer in den Jelf ein. Nach einigen Kursänderungen hielt er auf die Kirchwarf zu, um an der Brücke in der Nähe anzulegen.
»Das ist doch Hilligenlei, oder?« vergewisserte sich Hansen und zeigte auf die Warf, die seiner Erinnerung nach als einzige in Frage kam.
Eine Antwort bekam er nicht, denn in diesem Augenblick rammte der Ewer die Brücke, und ein alarmierendes Quietschen und Knarren ertönte.
»Verdammt!«, brüllte der Schiffer außer sich.
Hansen sprang auf den Steg, packte das Vorstag und drückte den Bug von den Bohlen weg. Er ließ sich auf die Knie fallen, um den Schaden zu betrachten. »Nicht so schlimm«, entschied er sachkundig. »Ein paar frische Splitter. Daneben war die Planke wohl schon mal eingedrückt É«
»Wahrscheinlich habe ich damals auch einen Neugierigen vom Festland hergefahren«, hieb der Schiffer heraus und warf Hansens blank polierte Reisetasche, die ihm Gerda geschenkt hatte, achtlos auf die Brücke, bevor er nach achtern enterte, um die Heckleine zu belegen.
Verärgert verzichtete Hansen darauf, ihm dabei zu helfen. Mit der Tasche auf der Schulter folgte er den Halligleuten. Die junge Frau an der Spitze legte ein tüchtiges Tempo vor.
Nachdem Sönke Hansen am nächsten Morgen ein mächtiges Frühstück aus frisch gebackenem Brot mit würziger Halligbutter und zwei hart gekochten Sturmmöweneiern vertilgt hatte, machte er sich auf den Weg zur Westseite der Hallig.
Wo es trockener war, leuchtete das Gelb von Kräutern, deren Namen er vergessen hatte, aber je nasser es wurde, desto mehr überwog das zarte Violett der Grasnelken. Immer mehr Priele und kleine Wasserläufe hatte er zu überwinden, und schließlich musste er von Grasbüschel zu Grasbüschel springen.
Die Westseite der Hallig war so zerklüftet wie damals, als er das erste Mal hier gewesen war. Aber die glitzernde Wasserfläche befand sich dichter an der Peterswarf, als er in Erinnerung hatte.
Als er die Halligkante erreicht hatte, starrte er betroffen zum Haus hinüber. Die Warf war auf der Seeseite teilweise abgetragen, und die zum Wasser gelegene Hausmauer gab es nicht mehr, ihre Reste lagen im Uferschlick. Die verbliebenen Wände schienen nur noch vom Kaminschlot zusammengehalten. Hier wohnte niemand mehr.
Die Zerstörung der Hallig schritt zügiger voran, als Hansen gedacht hatte.

Hansen setzte sich auf die Kante, zog Stiefel und Strümpfe aus und bohrte die Zehen in den Sand, der einen halben Meter unter ihm aufgeworfen worden war. Nachdenklich sah er ins Wasser. Es lief auf. Kleine Wellen leckten immer näher an seine Füße heran. Plötzlich bekam er Lust zu schwimmen.
In der Ferne weideten Rinder und Schafe, in der Nähe gab es eine Möwenkolonie, und im Wasser ließ sich eine Schar Enten die Nahrung in die Schnäbel treiben. Es war niemand in der Nähe, der an seiner Nacktheit Anstoß nehmen würde.
Sönke Hansen streifte seine Kleidung ab, watete auf dem feinen Sand so weit ins Wasser, bis es tief genug zum Schwimmen war, und tat dann rasch einige Züge.
Das Wasser war lähmend kalt. In dem neuen Schwimmstil, der von England herübergekommen war und der ihm sehr zusagte, kraulte er ein Stück weit hinaus, um dann mit dem Flutstrom etwas gemächlicher zurückzuschwimmen.
Als er unmittelbar vor seinen abgelegten Kleidern den Kopf aus einer Welle hob, fiel ihm ein Junge in die Augen. Der saß im Schneidersitz neben seinen Stiefeln und beobachtete ihn gelassen.
»Moin«, grüßte Hansen mit bibbernden Lippen und schwang sich auf die Kante.
Der Junge antwortete nicht.
Erst als Hansen sein Unterzeug übergestreift hatte, verlor der Junge das Interesse an seinem blau angelaufenen Körper. »Bist du von Amrum hergeschwommen?«, fragte er.
»Zu weit«, antwortete Hansen und verzichtete darauf, auf seine Stiefel zu verweisen, die in dem Fall vor ihm angekommen und sich ordentlich nebeneinander aufgestellt haben mussten.
»Meinem Opa sind beim Wollewaschen mal zwei Schafe weggetrieben«, verkündete der Junge, der zwölf oder dreizehn Jahre alt sein mochte, jedenfalls nicht den Eindruck machte, konfirmiert zu sein. »Jetzt haben wir keine mehr.«
»Schlimm«, stimmte Hansen zu. »Wer bist du denn?«
Der Junge zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die Mayenswarf.
»Deinen Namen weiß ich nun trotzdem nicht, ich bin doch erst seit gestern hier«, sagte Hansen behutsam.
»Wirk. Wirk Bandick.«
»Fein, Wirk. Ich heiße Sönke. Sönke Hansen. Und du meinst also, wenn die Schafe deines Opas fortgetrieben sind, könnte ich von Amrum hergetrieben worden sein?«
»Weiß ich nicht.« Wirk sprang unvermittelt auf die Füße und jagte davon. Vor ihm stoben die Möwen kreischend in die Höhe, worum der Junge sich aber nicht kümmerte, während er Haken schlug und über Wasserlöcher sprang.
Sönke Hansen sah ihm belustigt nach. Als Wirk außer Sicht war und sich die Möwen wieder niedergelassen hatten, trat eine Stille ein, die in Husum unbekannt war. Aber trotz des herrlichen Sonnenscheins und der sommerlichen Wärme war Hansen ein wenig unbehaglich, er wusste selber nicht, warum.
Am nächsten Tag begann Sönke Hansen mit einer umfassenden Inspektion des Ufers, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen, bevor er die Gespräche mit den Halligleuten aufnahm.
Danach wurde es Zeit, richtig zu stellen, wer er war. Vor allem die Ratmänner der Halligen, Mumme Ipsen und Tete Friedrichsen, mussten erfahren, dass er keineswegs als wunderlicher Badegast, sondern in dienstlichem Auftrag gekommen war.
Tete Friedrichsen wohnte auf Norderhörn. Die Sonne brannte, und es ging kaum ein Lüftchen, als Hansen sich am Nachmittag auf den Weg machte. Er stand im eigenen Schweiß, als er die Warf erreichte. Einem jungen Mann, der eine hoch mit Mist beladene Schiebkarre an der ruhenden Bockmühle vorbeistemmte, folgte er zum Dunghaufen und fragte ihn nach Friedrichsen. Der Jüngling zeigte wortlos auf zwei entfernte Gestalten, die auf einer Weide arbeiteten.
Hansen dankte und setzte seinen Weg fort.
Friedrichsen rammte gerade einen Pflock in die Fenne, offenbar, um den Handlauf des Stockes, eines schmalen Steges, über den breiten Priel zwischen Nordmarsch und Langeness zu reparieren. Ein junger Mann half ihm, und beide waren umgeben von Rindern, die mit nassen Mäulern zudringlich an ihnen herumsabberten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.05.2005