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Christiansen sah ihn prüfend und mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann verzog er plötzlich die Lippen zu etwas, das man andeutungsweise als Lächeln verstehen konnte. »Zur dänischen Zeit war die Rede von einem Leuchtfeuer auf der Hallig Nordmarsch, aber es wurde nie etwas daraus. Und die Olivia, das einzige Dampfschiff, welches jemals im Besitz des Kontors war, ist verkauft und zur Bark umgebaut worden.«
Hansen biss sich auf die Lippen und stemmte sich am Kasten in die Höhe. Es wurde Zeit, dass er den wahren Grund seines Kommens offenbarte. »Ihr Interesse an der Befeuerung scheint also nicht mehr aktuell zu sein. Und ich muss gestehen, dass mich hauptsächlich ein privater Grund zu Ihnen führt. Ich hoffte, Sie könnten mir Auskunft geben über eine junge Frau, die verschwunden ist. Eine Dänin, die sich möglicherweise nach St. Thomas, St. Jan oder St. Croix auf die Flucht begeben hat. Die Tochter eines Optanten, die vor kurzem für staatenlos erklärt wurde. Ein schneller Dampfer eines Rum-Kontors wäre ideal für ihre Zwecke gewesen É«
Er hatte sich jetzt sehr weit vorgewagt. Christiansen schwieg mit solch spürbarer Gefühlskälte, dass Hansen erschrak. »Sie ist blond und groß, eine sehr selbständige junge Frau. Und ihr Lachen É«, stotterte er verunsichert. »Wer sie einmal hat lachen hören, vergisst sie nicht. Können Sie mir sagen, ob sie bei Ihnen eine Passage gebucht hat?« Trotz seiner beginnenden Verzweiflung bemerkte er das Flackern in den Augen des Prokurators. Ellas Hinweis schien richtig gewesen zu sein. »Ich bin kein Spion«, beteuerte er hastig. »Sie ist meine Verlobte.«
Nils Christiansen ließ ihn ausreden. Nachdem Hansens unglücklicher Appell versiegt war, sah der Prokurator ihn mit regungsloser Miene an, stieß dann seinen Gehstock nachdrücklich auf die Dielen, als handele es sich um einen Schlusspunkt im Gespräch, drehte sich um und ging rasch in den Flur zurück.
»Haben Sie denn in letzter Zeit ein anderes Schiff nach Westindien abgefertigt?«, rief ihm Hansen in bittendem Ton hinterher. »Ein Segelschiff vielleicht?«
»Nein, Herr Hansen. Sie verschwenden meine Zeit. Mojn, mojn.«
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer fiel hinter dem Prokurator ins Schloss. Mit zusammengebissenen Zähnen holte Sönke Hansen Luft. Etwas kam ihm merkwürdig vor, ohne dass er sofort den Finger hätte drauflegen können.
Sein Zögern veranlasste den mit Papieren raschelnden Angestellten aufzuschauen, hinter seinem Tresen hervorzuschießen und ihm die Außentür unmissverständlich zu öffnen.
In grimmigem Schweigen verließ Sönke Hansen das Rum-Kontor.
Ein aus dem Kopfsteinpflaster herausragender Stein brachte Sönke Hansen vor dem Kontorhaus ins Stolpern und riss ihn aus seinen Gedanken heraus. Er registrierte, dass jetzt ein Mann in Arbeitskleidung dabei war, den Abfall mit bedächtigen Bewegungen vom Kai ins Hafenbecken zu fegen, und die Katze sich auf die Taurolle gesetzt hatte und ihn beobachtete.
Hansen schob die Hände in die Hosentasche und schlenderte hinüber. »Moin«, grüßte er.
»Moin«, antwortete der Mann entgegenkommend, ließ den Besen ruhen und schob seine Schirmmütze in den Nacken.
Seine Gestalt war drahtig, fast ausgemergelt. Hansen erkannte jetzt erst, dass er viel älter war, als er aus der Ferne gewirkt hatte. »Heiß heute.«
»Sehr heiß«, stimmte der Mann zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich würde Sie gerne zu einem Klönschnack einladen«, bot Hansen zögernd an, »ich möchte mit jemandem sprechen, der tagtäglich hier im Hafen zu tun hat, gut Bescheid weiß und nicht auf den Kopf gefallen ist. Aber ich weiß nicht so recht - können Sie Ihre Arbeit unterbrechen? Ich will Sie keinesfalls in Schwierigkeiten bringen.«
»Sie haben Ihren Mann«, antwortete der Arbeiter entschlossen, »ich bin hier für heute fertig. Auf Nielsens miesen Deputatverschnitt verzichte ich gerne.«
»Umso besser. Gehen wir.« Hansen fand es nicht ungünstig, dass der Mann einen heimlichen Groll auf das Rum-Kontor zu haben schien. »Wohin?«
»Zur Rumboddel.« Er zeigte auf ein schmales Haus neben dem Zollpackhaus, über dessen Tür sachte ein verwittertes Fässchen hin und her schwang.
Hansen, dem eine Kneipe so recht war wie die andere, folgte ihm.
Der Schankraum strotzte von Erinnerungen an die gute alte Seefahrerzeit. Afrikanische Speere, ausgestopfte Krokodile, fremdartige Paddel und eine weibliche Galionsfigur mit üppigem golden bemaltem Busen hingen an den Wänden, eine Reihe gefüllter Rumflaschen von der Decke, und Hansen musste sich unter einem aufgeblasenen stacheligen Kugelfisch ducken, um das Tischchen in einer abgelegenen Ecke zu erreichen, auf das sein Begleiter zusteuerte.
Als sie einige Minuten später vor ihrem Bier saßen, wischte sich der Mann vom Hafen mit einem erleichterten Stoßseufzer den Schaum von den Lippen. »Es gibt nichts Besseres als das Lagerbier der Actienbrauerei. Die ist gleich hier um die Ecke. Die verschicken ihr berühmtes Bier bis nach Japan und Westindien. Was wollen Sie wissen, Herr É?«
Hansen verstand den Wink. Der Mann war kein Zuträger und Spion, der jedem Dahergelaufenen gegen Entlohnung Auskunft geben würde. Er neigte leicht den Kopf. »Sönke Hansen, Deichbauer aus Husum.«
»Oh. Erfreulich«, sagte sein Gegenüber und streckte ihm die Hand entgegen. »Dann ernährt uns beide ja die See. Ich bin Peter Müller, Schauermann, Wächter am Hafen, sehe überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit nach dem Rechten, mache alles, was gerade gefragt ist und entlohnt wird. Habe Frau und zwei Gören zu ernähren.«
Bestens, da war Hansen auf die richtige Quelle gestoßen. »Sind in jüngster Zeit Schiffe aus Westindien mit Zucker oder Rum für das Rum-Kontor von Nielsen eingetroffen? Oder dorthin abgefahren?«, fragte er hoffnungsvoll.
Müller schüttelte mit der spöttischen Miene des Kenners den Kopf. »Rum? Der kommt erst im Herbst. Zu dieser Jahreszeit nicht. Jetzt ernten sie das Zuckerrohr.«
»Dann fahren jetzt gar keine Schiffe dorthin?« Hansen war enttäuscht. Dann konnte Gerda ja gar nicht auf diesem Weg geflohen sein. »Aber was ist mit dem Bier der Actiengesellschaft? Nehmen die Zuckerschiffe vielleicht Bier als Rückfracht mit? Und nur im Herbst?«
Sein Gesprächspartner lächelte überlegen und leerte seinen Krug. Der Wirt, der wohl erkannt hatte, dass sich hier ein Geschäft machen ließ, blickte fragend zu Hansen herüber, der ihm bestätigend zunickte.
»Nein, nein, Hansen, das läuft anders«, bemerkte Peter Müller zufrieden. »Die armen Menschen auf ihren Plantagen müssen ja auch irgendwie mit allem versorgt werden, was sie gewohnt sind. Und es leben dort ja auch noch ein paar Weiße. Die brauchen Möbel, Kerzen, Wein, Mehl. Gelegentlich segeln auch jetzt Schiffe mit solchen Versorgungsgütern. Aber sehr unregelmäßig.«
»Ach so.« Hansen schöpfte wieder Hoffnung. »Hat denn Nielsen in den letzten Wochen einen Segler mit solchen Versorgungsgütern auf die Reise geschickt?«
Müller schüttelte wieder den Kopf, inzwischen offenbar mit dunklen Vorahnungen. »Sie haben ganz falsche Vorstellungen. Zur dänischen Zeit hätten Sie solche Fragen stellen können. Da war es anders, da hatten die Rumhersteller ihre eigenen Plantagen in Dänisch-Westindien, und der Hafen wimmelte von Schiffen. Stets war mindestens eines zu den Inseln bestimmt. Aber das ist lange her É«
Hansen brummte unzufrieden. Eine Sackgasse. Zumindest jetzt im Frühling konnte Gerda das Land auf diese Weise nicht verlassen haben.
»Nur der Dampfer«, ergänzte Müller nachdenklich. »Der hat Flensburg verlassen. Die Olivia.«
»Die Olivia?«, erkundigte sich Hansen irritiert. »Hat Nielsen denn einen Dampfer?« Er hütete sich zu erwähnen, dass er mit dem Prokurator gesprochen hatte.
»Die Olivia«, bestätigte Müller. »Die ist zwar zur Bark umgerüstet worden, aber sie wird immer noch der Dampfer genannt. Alte Gewohnheit von uns Älteren, die wir die Olivia früher als schönsten Dampfer von Flensburg beladen haben. Sehr vornehm. Nahm damals auch Passagiere mit für Reichstaler, die wir beide im ganzen Jahr nicht verdienen.« Er stieß Hansen kumpelhaft mit dem Ellenbogen an und lachte verhalten.
Sönke Hansen grinste automatisch, während seine Gedanken zum Gespräch mit Christiansen zurückgingen. Hatte er ihn falsch verstanden? Nein, der hatte eindeutig gesagt, dass die Olivia verkauft sei. »Und die fährt immer noch für Nielsen?«
»Aber sicher doch! Regelmäßig. Nur dieses Mal war irgendetwas an ihr anders«, fuhr Müller fort. »Am Ballastufer war sie nicht, Ladung hatte sie auch nicht aufgenommen, und sie schwamm ungewöhnlich hoch auf. Ohne Ballast und ohne Ladung ist sie sehr rank, wissen Sie, und dann ist jede Fahrt gefährlich. Die wollte nicht nach Dänisch-Westindien oder Jamaika! Ich bin so gut wie sicher, dass sie keine weite Reise hatte.«
»Wo könnte sie dann hingefahren sein?«
»Ins Dock, denke ich«, antwortete Müller überzeugt. »Zur Reparatur.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.05.2005