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Unsere Kinder bei Missfallen für staatenlos zu erklären, entzog nicht nur ihnen den Boden unter den Füßen, sondern vor allem uns Optanten. Es ist die tückischste Art der Bestrafung, die sich eine Regierung überhaupt ausdenken kann É«
»Ja«, brachte Hansen mit einem dicken Kloß im Hals heraus. »Gerda hat es mir erklärt. Wir haben oft darüber gesprochen. Und du befürchtest nicht, dass ihr etwas passiert sein könnte? Dass sie längst inhaftiert ist? Mich beruhigt ihre verstümmelte Nachricht nicht sonderlich.«
Lars Rasmussen presste die Lippen zusammen und wiegte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich, ohne es zu begründen. »Sie weiß, was sie tut.«
Hansens Unbehagen war nicht gemildert. Wo war Gerda? Er konnte nur hoffen, dass Lars es heimlich doch wusste, aber sich zu diesem Thema zum Schutz der dänischen Minderheit absolute Schweigsamkeit auferlegt hatte.
Kurz vor dem Schlafengehen zog Ella, Gerdas Mutter, Sönke Hansen beiseite. »Ich habe schreckliche Angst um Gerda«, flüsterte sie ihm zu. »Gerda weiß das, und sie würde mich nicht im Ungewissen lassen, wenn sie in der Lage wäre, sich zu melden.«
»Könnte sie sich denn irgendwo versteckt halten?«, flüsterte Hansen zurück.
»Ich vermute, dass sie es tat. Darüber machte Lars mal Andeutungen É Aber in den letzten Tagen verliert er kein Wort mehr über seine Tochter. Ich fürchte, dass er sie aus den Augen verloren hat, mich aber nicht noch mehr beunruhigen möchte. Im schlimmsten Fall versucht sie zu ihrem Onkel auf die Westindischen Inseln zu gelangen. Wenigstens hat sie ihren Pass, aber sie hat kein Geld É Hoffentlich ist sie nicht überhaupt tot!«
Ein Geräusch an der Haustür kündigte Rasmussens Rückkehr aus dem Garten an.
Ella stellte sich auf die Zehenspitzen und zog Hansens Kopf zu sich herab. »Frag in Flensburg in Nielsens Rum-Kontor nach«, hauchte sie ihm mit tränennassen Wangen ins Ohr. »Die nehmen manchmal Passagiere mit É« Abrupt ließ sie ihn los und eilte in die Küche.
Sönke Hansen sah ihr entsetzt nach. Gerda tot? Oder in Dänisch-Westindien? Dass Lars jede Auskunft verweigerte, erfüllte ihn mit tiefer Besorgnis.
Hansen war aber auch empört, weil Lars kein Wort fand, um seine Frau zu beruhigen. Lars Rasmussen konnte in seinem politischen Kampf für die dänische Minderheit knochenhart sein, gegen sich selbst und gegen andere, und wenn er ihn als gefährdet ansah, würde er schweigen wie ein Grab.
Aber Hansen war kein Däne. Zurück auf dem Bahnhof, beschloss er zu seiner und Ellas Beruhigung, sofort nach Flensburg zu fahren und sich im Rum-Kontor nach Gerda zu erkundigen. Dem Zug nach Dagebüll, der dampfend und prustend den Bahnhof verließ, sah er ohne Bedauern nach. Sein schlechtes Gewissen wegen unerlaubten Entfernens vom Dienst verflüchtigte sich mit dem Rauch, der sich über dem flachen schwarzen Dach des Bahnhofsgebäudes auflöste.
In einer Rum-Destille war er noch nie gewesen. Natürlich gehörte es nicht zu ihren staatlich anerkannten Aufgaben, flüchtige Kinder von Optanten auszuschleusen. Wie also brachte man solche Leute dazu, eine illegale Tätigkeit zuzugeben?
Dann kam der Zug. Als Hansen auf der Plattform stand, hatte er bereits eine Idee.
Nielsens Rum-Kontor entdeckte Hansen an der Schiffbrücke hinter dem Zollpackhaus und schon fast am Nordertor; die Kontore der bekannteren Marken wie Balle und Sonnberg, deren Namenszüge von weitem zu lesen waren, befanden sich in vornehmerer Gegend stadteinwärts.
Die Pier vor dem Kontor war leer und unbelebt, abgesehen von einer Katze, die um eine Taurolle herumstrich und missvergnügt an Fischabfällen schnupperte. Einer der beiden Torflügel des Handelshauses stand offen, und im Durchgang zum Hof fand er die Tür, die zu den Kontorräumen führte.
Jenseits eines Vorraums mit Vitrinen, denen Hansen keine Beachtung schenkte, öffnete sich ein Gang zu einem großen Raum mit einem halbhohen Tresen, hinter dem jemand saß. »Hoppla«, sagte Hansen und stoppte einen jungen Mann, der ihm von dort rückwärts entgegenkam, bevor er ihm auf die Füße treten konnte.
Dem in Grau gekleideten Laufburschen blieb das exaltierte Lachen, das dem Mann hinter dem Tresen galt, in der Kehle stecken. »Verzeihung, der Herr«, sagte er verlegen.
»Kann ich behilflich sein?« Hinter dem Tresen tauchte ein weiterer Angestellter auf, mit weißem Kragen und wichtigtuerischer Miene.
Hansen erkundigte sich, ob Herr Nielsen zu sprechen sei.
»Herr Nielsen weilt auf Seeland, aber ich werde feststellen, ob einer der anderen Herren zu sprechen ist. Ich nehme an, es geht um die Bestellung einer kleinen Partie Rum? Welcher Qualität, wenn ich fragen darf?«
Aha, dachte Hansen ein wenig erstaunt, nach einer großen Partie sehe ich offenbar nicht aus. Aber man ist höflich genug, um mir nicht zu unterstellen, dass ich den billigsten Verschnitt haben will. »Es geht mehr um die Befrachtung Ihrer Schiffe«, antwortete er ausweichend. »Ich bin Deichbauinspektor im Wasserbauamt von Husum.«
»Oh, darum also. Ich weiß, dass unsere Firma schon zweimal eine Eingabe wegen der mangelhaften Befeuerung an der Westküste eingereicht hat.« Der Angestellte, der merklich höflicher geworden war, schnellte in die Höhe und eilte am Tresen vorbei in den Gang, von dem zwei Türen abgingen. Er verschwand hinter der einen, und Hansen hörte ein Murmeln.
Während er wartete, schlenderte Hansen in den vorderen Raum zurück. Mit den Händen auf dem Rücken, begann er zwischen den Vitrinen umherzuwandern, in denen Ausstellungsstücke die Vergangenheit des Kontors ins rechte Licht setzten. Sie musste voller Glanz und Luxus gewesen sein, denn alles in diesem Raum atmete Stolz auf eine Welt, die Hansen völlig unbekannt war.
Der Reichtum der Nielsens war offensichtlich dem Firmengründer zu verdanken, der von einem großen Ölgemälde auf ihn herabblickte. Seine altmodische Kleidung verwies ebenso wie der kleine Negerjunge, der ihm mit einem Federfächer Frischluft zuwedelte, auf das vergangene Jahrhundert. Unbändiger Stolz auf diese Vergangenheit schlug Hansen entgegen.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er selbst den entgegengesetzten Stolz nährte: Dänemark, mit dem er sich so sehr verbunden fühlte, hatte als erste Nation die Sklaverei verboten, und jetzt wurde ihm klar, was dies bedeutete. Porträts von weißen Plantagenbesitzern mit ihren schwarzen Sklaven würde es nie mehr geben.
Als er einen Schritt zurücktrat, stieß er gegen einen gläsernen Kasten, in dem sich eine demolierte Glocke befand. Das Schildchen besagte, dass Carl Heinrich Nielsen höchstpersönlich das herrische Knallen mit Peitschen, mit dem die Sklaven zur Arbeit gerufen wurden, durch den milden Klang der christlichen Glocke hatte ablösen lassen. Daneben lag das im Namen des Königs ausgestellte Privileg zur Eröffnung von Nielsens Societät für Sklavenhandel, verbunden mit einer Zuckerraffinerie in Flensburg.
Sönke Hansen, der beides nicht sonderlich bewundernswert fand, wanderte zu einer Vitrine mit einem auffallend scharf geschnittenen Segelschiff weiter, das ihn mehr interessierte. Sechs Rahsegel an hohen Masten, ein typischer Schnellsegler für alle Weltmeere. Die berühmten Teeklipper waren ähnlich gebaut, galten aber heutzutage als überholt.
Als modern galten jetzt Segler aus Stahl, deren Unterwasserschiff völliger war, die aber aufgrund ihrer größeren Länge genauso schnell waren. Sie fassten mehr Ladung und fuhren mit geringerer Mannschaft, aber Hansen bezweifelte insgeheim, dass diese Neuerung gut war.
Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen, und Hansen drehte sich um.
Ein Herr, dessen krauser Bart den altmodischen Stehkragen fast verdeckte, stand vor ihm. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er drahtig und hellwach. Seine blauen Augen musterten Hansen kühl.
»Ich bin Nils Christiansen, Prokurator des Rum-Kontors Nielsen«, stellte er sich vor und deutete kaum sichtbar eine Verneigung an. »Sie wollten mit uns wegen der Befeuerung der nordfriesischen Inseln sprechen? Zu viel Ehre für unser unbedeutendes Kontor. Außerdem kommt das Wasserbauamt leider ein halbes Jahrhundert zu spät.«
Aber der Firmeninhaber hat zwei Eingaben deswegen gemacht, sagte sich Hansen in Gedanken verblüfft und nahm dankbar die Gelegenheit wahr, sein Anliegen noch hinauszuschieben. Der Prokurator war eindeutig Däne und machte den Eindruck, stockkonservativ und äußerst national gesonnen zu sein. Besondere Behutsamkeit war hier geboten.
Hansen zeigte auf eine Vitrine, in der ein Dampfschiff stand. »Das Kontor ist doch offenbar sogar im Besitz von Dampfschiffen«, widersprach er auf Dänisch und ging in die Knie, um den Schiffsnamen zu lesen. »Olivia, ein schönes Schiff. Die Passagiere, die die Olivia mitnimmt, haben ein Anrecht auf eine glückliche Ankunft. Ich bin ganz dafür, dass Sie auf größere Sicherheit wenigstens an unseren eigenen Küsten bestehen, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nicht zu verantworten, was vor fünfzig Jahren vernachlässigt wurde, und besser jetzt als nie!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.05.2005