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Gerda!
Manchmal wollte er nicht wahrhaben, dass sie verschwunden war. Es war so schwer zu begreifen. Sie war ein so anständiger Mensch, aufrecht bis zur Selbstaufgabe, völlig furchtlos, und hatte der preußischen Obrigkeit stets die Stirn gezeigt, wo es notwendig war. Das hatte sie in ihrem Elternhaus bereits mit der Muttermilch eingesogen.
Und deshalb war sie verschwunden. Sie musste Anlass zur Befürchtung gehabt haben, an die preußische Obrigkeit verraten worden zu sein und als Kind eines missliebigen nordschleswiger Optanten* für staatenlos erklärt zu werden. Als Staatenlose ohne Pass aber wäre ihr verboten, weiter als Lehrerin zu arbeiten; eine Aussicht, die für Gerda unerträglich wäre, das wusste Sönke Hansen.
Nicht begreifen aber konnte er, dass Gerda ihn im Ungewissen gelassen hatte. Er liebte sie und sie ihn, und im Herbst wollten sie heiraten. Sorge dich nicht, ichÉ An der Stelle war Gerdas einzige Nachricht für ihn auf einem Fetzen Papier abgerissen, als ob sie in größter Eile gewesen wäre.
Hansen nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und tauchte auf dem Steinwall eine einzelne Heckenrosenknospe, die ungewöhnlich früh im Jahr aufblühen wollte, in ein orangefarbenes Licht.
Vielleicht hatte Gerda ihn auch in ihre Pläne nicht eingeweiht, um ihn zu schützen, denn als Mitarbeiter der Wasserbauinspektion stand er letzten Endes im Dienst der Herren von Berlin.
Zuzutrauen war ihr das, dachte Hansen mit Stolz. Vor allem das. Die Karriere eines Friesen im Staatsdienst konnte schnell beendet sein, wenn er mit illegalen Aktivitäten der Dänen in Verbindung gebracht wurde.
Er verlor sich, wie so oft, in Erinnerungen.
»Herr Bauinspektor«, rief im Schlafzimmer seine Zugehfrau derart entsetzt, dass Hansen aus seinen Gedanken hochfuhr und Kaffee über die blütenweiße Tischdecke vergoss, »haben Sie denn gar nicht bemerkt, dass das Bild von Fräulein Gerda nicht an seinem Platz steht? Ich habe es hinter dem Nachttisch gefunden, stellen Sie sich das doch nur vor! Mit Ihrem Nachtschlaf muss es nicht gut bestellt sein, wenn Sie so um sich schlagen!«
»Nein. Ja«, gab Hansen wortkarg zu und verschwieg ihr, dass er das Porträt behutsam dort abgestellt hatte. Manchmal ertrug er Gerdas Blick einfach nicht. Das untätige Warten auf Nachricht fand er unerträglich, und oft machte er sich Vorwürfe, dass er selbst nicht mehr tun konnte.
Petrine Godbersen erschien in der Tür, eine ältere Frau mit mütterlichem Gesichtsausdruck, den sie sich nicht einzusetzen scheute, wenn sie ihn für angebracht hielt, die Hände über der Schürze gefaltet.
»Nun müssen Sie aber wirklich los, Herr Hansen«, mahnte sie mit mildem Vorwurf. »Sie vertrödeln sich. Die Deiche werden brechen, und Ihre Vorgesetzten werden mit Ihnen schimpfen müssen.«
Hansen musste lächeln. Er erhob sich zur vollen Länge seiner fast einsneunzig, zog automatisch den Kopf an genau der richtigen Stelle unter dem niedrigen Deckenbalken des alten Hauses ein, holte seine Jacke vom Haken im Flur und trat in den Garten.
Da Frau Godbersen ihm höchstwahrscheinlich nachblickte, schloss er die weiße Pforte im Wall sehr ordentlich hinter sich.
Die Jacke rückte er sich nur lose über den Schultern zurecht. Am liebsten hätte er sich des Binders unter dem gestärkten Kragen entledigt, aber ohne ihn konnte er nicht zum Dienst erscheinen. Trotzdem wanderte er an diesem überraschend warmen Frühlingstag des Jahres 1894 einigermaßen gelassen seiner Dienststelle entgegen.
Das Preußische Amt für Wasserbau war ein großes, streng gegliedertes Backsteingebäude mit hohen Fenstern. Hansen eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die breite Treppe in den ersten Stock hoch. War er erst einmal im Flur angelangt, an dessen Ende ihn sein Dienstzimmer erwartete, war die Gefahr, einem Mitglied der Kommission für Schleswig-Holsteinische Wasserbauangelegenheiten zu begegnen, die in diesen Tagen im Haus aus und ein ging und bei den eigentlichen Fachleuten für Deichbau für stete Beunruhigung sorgte, nicht mehr so groß.
Aber dieses Glück hatte er heute nicht. Als Hansen kurz vor dem Treppenabsatz aufsah, fiel ihm die glänzend polierte Schnalle einer braunen Aktentasche in die Augen. Unwillkürlich folgte er ihrem Pendeln, mit dem in den regelmäßigen Abständen eines Leuchtfeuers zwei röhrenförmige, fadenscheinig glänzend schwarze Hosenbeine freigegeben wurden.
Soweit Hansen festgestellt hatte, befand sich in dieser Tasche stets nur das Frühstücksbrot des Barons.
»Ach, auch schon da, Herr Inspektor?«, erkundigte sich in süffisantem Tonfall der Oberdeichgraf des 1. Schleswigschen Deichbandes. »Ihr üblicher Dienstbeginn? Angesichts dieses friesischen Schlendrians wird mal wieder deutlich, warum die Aufsicht über die einschlägigen Anstalten zum Schutz der Westküste in preußischer Hand am besten aufgehoben ist.«
»Die Aufsicht, wie Sie es nennen, Herr Baron«, entgegnete Hansen mit kaum verborgener Verachtung gegenüber diesen regelmäßigen Attacken, »unterschied sich in ihrer Zusammensetzung in dänischer Zeit nicht von der heutigen. Dagegen hat meines Wissens kein Däne je die Meinung vertreten, die nordfriesischen Halligen sollten ihrem Schicksal überlassen werden. Und den Deichbau haben die Friesen erfunden, nicht die Berliner É«
»Sie sind ein notorischer Querulant, Hansen! Die Besprechung ist für neun Uhr anberaumt. Sehen Sie zu, dass Sie wenigstens da pünktlich sind!« Baron von Holsten machte auf den Hacken kehrt, wobei die polierten Schuhe mit leisem Klacken aneinander stießen, und rauschte davon.
Sönke Hansen sah ihm verärgert nach. Schlechter konnte ein Arbeitstag kaum anfangen.


Die Wanduhr schlug zum zweiten Mal, als Hansen das Besprechungszimmer betrat, dessen einziger Wandschmuck ein Bild des Kaisers war. Dass dort einstmals eine Tafel gehangen hatte, auf der Nordfriesland als Vaterland und als freundlich leuchtender Punkt neben Deutschland und Dänemark bezeichnet worden war, wussten nur noch wenige.
Hansen, der mit zweiunddreißig Jahren der jüngste aller Mitarbeiter des Hauses war, hatte die Tafel nie gesehen, aber selbstverständlich von ihr gehört. Den Blick stur auf den hellen Fleck gerichtet, den sie zurückgelassen hatte, hängte er sein Jackett über die Stuhllehne, setzte sich und wartete ab.
Während die Kollegen aus dem Amt und die Mitglieder der Kommission für Wasserbauangelegenheiten allmählich eintrudelten, nahm Hansen sich vor, Gerdas Vater so bald wie möglich zu besuchen. Vielleicht hatte Lars inzwischen etwas von seiner Tochter gehört.
»Moin, Hansen«, raunte es neben ihm, »warum so trübsinnig an diesem schönen Morgen? Befürchtest du allen Ernstes, dass die Kommission das Todesurteil für deine geliebten Halligen aussprechen wird?«
Schmunzelnd sah Hansen auf und nickte dem Kollegen zu, der neben ihm Platz nahm, wie immer mit einem flotten Spruch auf den Lippen. Friedrich Ross war Wasser- und Deichbauer wie er selber und stammte aus Bremen. Ein netter Kerl. »Ich weiß nicht, ob sie es wagen werden. Gerade jetzt, wo die Nordfriesen die gute Zeit der dänischen Obrigkeit allmählich zu vergessen beginnen, wäre es unklug, sie gegen Preußen aufzubringen.«
»Nicht alle sprechen so gut von der dänischen Zeit wie du«, sagte Ross gedämpft.
Hansen zuckte mit den Schultern. Eine Antwort blieb ihm erspart, da in diesem Augenblick Baron von Holsten den Raum betrat und die Anwesenden sich zu seiner Begrüßung geräuschvoll erhoben.
»Guten Morgen, meine Herren.« Der Oberdeichgraf schien die versammelten Herren durchzuzählen, wobei sein Blick einen Moment beziehungsvoll auf Hansen liegen blieb, bevor er sich setzte. »Wir wollen unmittelbar zur Sache kommen. Es geht wieder einmal um die Halligen.«
Über die jetzt bereits zwanzig Jahre diskutiert wird, ohne dass ein Beschluss gefallen ist. Zwanzig verlorene Jahre, dachte Hansen, in denen Jahr für Jahr Land von den Halligen brach und in der Nordsee verschwand. Er drehte seinen Bleistift zwischen den Fingerspitzen beider Hände und versuchte, seinen Zorn über den Zeitverlust im Zaum zu halten.
»Jedoch werden wir trotz der inzwischen von Berlin angeordneten Eile dem Konterfei unseres geliebten Kaisers den Respekt erweisen, den dieser erwarten kann, als ob er selber anwesend wäre.«
Eine Art von Stille trat ein, die sich deutlich von der vorherigen abhob, die eher ein höfliches und erwartungsvolles Schweigen gewesen war.
Hansen sah auf. Er begegnete dem Blick des Vorsitzenden, der offenbar schon eine Weile unverwandt auf ihm ruhte. Ein Stoß traf ihn am Ellenbogen. Als er zu Ross blickte, deutete dieser mit den Augen zum Jackett, das noch über der Lehne hing.
Sönke Hansen spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, während er sich die Jacke anzog. Seine lockigen Haare waren nach Ansicht eines preußischen Barons vermutlich auch zu lang. Verstohlen strich er sie aus der Stirn.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.05.2005