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Ärzte sehen Versorgungskrise

Hoppe: Es kann nicht mehr jeder so behandelt werden, wie es geboten ist

Berlin (dpa). Vor dem Hintergrund der Medizinerproteste haben sich Bundesregierung und Ärzteschaft gegenseitig für zu viel Bürokratie im Gesundheitswesen verantwortlich gemacht. Den Menschen in Deutschland droht nach Ansicht des Präsidenten der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, eine dramatisch schlechtere medizinische Versorgung.
»Wir erleben eine weitere Bürokratisierung des ärztlichen Alltags und eine Konzentration der Versorgungslandschaft«, warnte Hoppe gestern auf dem Deutschen Ärztetag in Berlin. Das Soziale des Gesundheitssystems werde aus Gründen der Wirtschaftlichkeit geopfert.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sagte an die Adresse von Ärzten und Kassen, die wenigen bürokratischen Auswüchse seien größtenteils »durch die Vertragsgestaltung in der Selbstverantwortung entstanden«. Die flächendeckende Versorgung auch sozial Schwacher müsse weiter sichergestellt werden. Hochleistungs-Medizin müsse dafür verstärkt in spezialisierten Zentren konzentriert werden. »Nicht alles kann und muss überall zur Verfügung stehen«, betonte sie.
Hoppe malte unter immer wieder lautem Beifall der 250 Delegierten der Hauptversammlung der Bundesärztekammer ein teilweise düsteres Zukunftsszenario: »Schon lange kann nicht mehr jeder so behandelt werden, wie es nach den Regeln der ärztlichen Kunst geboten wäre.«
Der Bundesregierung warf Hoppe die Schaffung administrativer Behandlungsprozesse etwa durch Fallpauschalen in Krankenhäusern oder durch vorgeschriebene Behandlungskorridore in so genannten Disease-Management-Programmen vor. In der Ärzteschaft herrsche »Frust«.
Nach weiterem Hin- und Herschieben von Patienten in verschiedenen Programmen könne es eines Tages heißen: »Deutschland hat die kränkeste Bevölkerung der Welt, weil die medizinische Leistung aus Über-, Unter- und Fehlversorgung besteht.« Für den Nachwuchs verliere der Beruf zunehmend an Attraktivität, beklagten Hoppe und andere Ärztevertreter. Das Durchschnittsalter der Praxisärzte stieg nach Angaben der Bundesärztekammer binnen zehn Jahren um mehr als drei Jahre auf 50,5 (2004).
Hoppe bemängelte: »Die statistische Rationierung ist gleichsam das verborgene Prinzip, mit dem die Beitragssatzstabilität erkauft worden ist.« Der Präsident der Ärztekammer Berlin, Günther Jonitz, sagte: »Es wird immer schwerer, gute Medizin zu machen, und die Kosten sinken nicht.«
Schmidt betonte in ihrer mehrfach von spöttischem Gelächter, aber auch von Applaus unterbrochenen Rede: »Es muss erlaubt sein, über den sinnvollen Einsatz auch der Ressourcen zu reden.« Es sei »kein Widerspruch, ein guter Arzt zu sein und gleichzeitig wirtschaftlich zu handeln«. Schmidt versicherte: »Wir wollen keine von außen gesetzten Rationierungen.« Die Ministerin räumte ein, vor allem in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands herrsche teilweise Ärztemangel. Die Ärzteschaft habe der Politik bisher kaum Vorschläge dazu gemacht.
Auch die Schwächeren müssten vom medizinischen Fortschritt durch die Weiterführung solidarischer Finanzierung profitieren, forderte Schmidt. In ihren viertägigen Beratungen wollen sich die Ärzte auch mit der zunehmenden Armut und dadurch verursachten Krankheiten befassen.
Am Morgen hatten 150 Klinikärzte aus mehreren Bundesländern gegen lange Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung demonstriert, am Montag waren es bundesweit fast 5000. Schmidt forderte Krankenhäuser und Kassen auf, flexible Arbeitszeiten in Kliniken zu ermöglichen und die Hierarchie in der Klinikärzteschaft abzubauen. Von 700 Millionen zugesagten Euro für die Förderung neuer Arbeitszeitmodelle in Kliniken habe der Bund bereits 200 Millionen ausgegeben.

Artikel vom 04.05.2005