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Leitartikel
Referendum in Frankreich

Auf der Kippe und um die Ecke


Von Jürgen Liminski
Aufatmen im Elysee. Endlich hat ein namhaftes Umfrage-Institut eine wenn auch knappe Mehrheit der Franzosen für das Referendum zur EU-Verfassung ausgemacht.
Zwar veröffentlichte gleichzeitig ein anderes, ebenso namhaftes, das Gegenteil. Aber das Signal für Jacques Chirac und die Regierung ist: Die Sache ist noch nicht aussichtslos, wir kämpfen weiter und werden das Referendum notfalls wiederholen. Auf keinen Fall wird man sich in Paris selber infrage stellen und nach den Gründen forschen, warum so viele Franzosen den Europa-Kurs von Chirac und Co. missbilligen.
Es geht eigentlich gar nicht um die Verfassung. Aber das Referendum ist eine Möglichkeit, der Regierung, insbesondere Chirac, einmal die Meinung zu sagen. Denn Chirac hat in dieser Sache zwei Fehler gemacht. Der erste bestand darin, das Türkei-Referendum weit in die Zukunft, also wenn Chirac schon längst nicht mehr Präsident sein wird, zu legen und somit den Volkswillen zu missachten.
Hätte er 2005 das Referendum über die Verfassung und nächstes Jahr - also während seiner Amtszeit - eines über eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei anberaumt, die Bürger hätten die Verfassung glatt passieren lassen im Wissen darum, dass sie Chiracs orientalische Liebschaft im nächsten Jahr hätten abweisen können.
Der zweite Fehler bestand darin, den deutschen Kanzler Gerhard Schröder gegen die eigenen Landsleute in Stellung zu bringen nach dem Motto: Herr Nachbar, erziehen Sie doch bitte mal meine Kinder. Das vertragen Franzosen nicht. Das löckt wider den Stachel des Asterix-Komplexes.
Chirac könnte dennoch Glück haben. Denn viele Franzosen gerade aus dem bürgerlichen Lager, die ihm nun eins auswischen wollen, ohne gleich die Regierung zu wechseln, zögern trotzdem vor einem Nein zur Verfassung. Mit diesem Nein befänden sie sich im gleichen Lager wie die Extremisten von links und rechts, und davor schrecken sie zurück.
Deshalb ist damit zu rechnen, dass die Enthaltung sehr hoch sein wird. Und das wiederum wäre für die Regierung ein Argument, das Referendum zu wiederholen, sollte es tatsächlich ein Nein werden. Dann dürfte es, um die Ecke gedacht, ein Ja werden, weil Chirac zuvor »abgewatscht« wurde.
Das mögen alles sachfremde Gründe sein. Aber so ist die Politik auch bei uns. Wer glaubt denn schon Franz Müntefering, dass er die Kapitalismus-Debatte ohne Blick auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen losgetreten hat? Schon lange ist in Frankreich ein Unbehagen am Europa der Technokraten und des bürgerfernen Establishments in Brüssel und auch in Paris und Berlin zu spüren.
Ganz abgesehen davon, dass in einer Zeit der religiösen Renaissance diese Verfassung ohne Gottesbezug unangenehm künstlich wirkt. Ein geistiger Rahmen, der die Identifikation mit Europa ermöglicht, ist es jedenfalls nicht. Und das wollen die Franzosen auch zum Ausdruck bringen.

Artikel vom 04.05.2005