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Sie alle kennen meine Meinung«, fuhr Baron von Holsten befriedigt fort, als ob er ein Scharmützel gewonnen hätte, »diese öden kleinen Eilande da draußen sind, wie die Geschichte bewiesen hat, dem Untergang geweiht. In früheren Zeiten konnte man dort Korn ernten, habe ich gehört; inzwischen gibt es nur noch dürftiges Gras, und die Ringelgänse haben die Herrschaft übernommen. Es wird kein Jahrhundert mehr vergehen, bis ausschließlich Möwenexkremente und Sand daran erinnern, dass da mal was war.«
Zwischen Hansens Fingern zerbrach der Bleistift. Eines der Bruchstücke flog wie ein Katapult in die Höhe und landete vor dem Platz des Vorsitzenden.
»Es scheint, unser junger Rebell vertritt eine andere Meinung als die sachverständige preußische Kommission«, merkte der Baron süffisant an. »Und nach Art der Dänen schießt er ohne Vorwarnung.« Mit wohlwollend geneigtem Kopf bedankte er sich bei denjenigen Herren, die ihm mit leisem Gelächter Beifall zollten.
Sönke Hansen holte Luft und bezwang seine Verärgerung. »Ich entschuldige mich, Baron von Holsten. Es war keine Absicht. Der Bleistift war wohl zu zerbrechlich für die groben Hände eines Deichbauers.«
Der Vorsitzende strich sich bedächtig seinen Bart und nickte schließlich, als ob er die Entschuldigung gelten ließe. Währenddessen hatte der neben ihm sitzende Deichinspektor für das Herzogtum Schleswig, durch die Streifen auf seiner Uniform als Kapitänleutnant ausgewiesen, sich das Bleistiftende geangelt und mit dem Lorgnon vor dem Auge die Beschriftung betrachtet.
»Preußische Bleistiftfabrik Potsdam«, entzifferte Marius von Frechen.
Auch das noch! Sönke Hansen hatte keine Ahnung gehabt, wer die Bleistifte des Wasserbauamtes herstellte. »Ich würde gerne darauf hinweisen«, warf er hastig ein, »dass die Halligen keineswegs so unwirtlich sind, wie sie manchem aus der Ferne erscheinen mögen. Es sind besonders liebenswerte Menschen, die da draußen leben. Mit geduldiger und genügsamer Bewirtschaftung ihres Landes erhalten sie die Halligen. Und diese haben die Funktion großer natürlicher Wellenbrecher vor der Küste, so dass ihre Bewohner letztlich zum Schutz des Festlandes beitragen, auch der Stadt Husum É«
»Belehrungen dieser schülerhaften Art sind, bei Gott, unnötig, Hansen«, unterbrach ihn der Vorsitzende verärgert. »Glauben Sie wirklich, mir sei nicht bekannt, dass auf diesen Inseln hauptsächlich Rindvieh und Schafe herumlaufen?«
»Nicht Inseln, Herr von Holsten«, verbesserte Hansen hartnäckig. »Halligen. Das ist etwas anderes, erdgeschichtlich gesehen.«
»Sehen Sie es, wie Sie mögen, Hansen! Für den preußischen Staat sind die Halligen die kleinsten Inseln vor der Küste der Nordsee, und uns kommt die Aufgabe zu, aus sachlicher Sicht zu entscheiden, ob sich ihre Erhaltung lohnt oder ob es vernünftiger wäre, sie aufzugeben und die Bewohner umzusiedeln. Genau genommen ginge nicht einmal Land verloren, wenn wir uns zu Letzterem entschlössen, denn die abgetragene Halligerde wird schließlich am Festland wieder angelagert.«
»Aus verteidigungsstrategischer Sicht sind die Halligen nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich, indem ihre Verteidigung im Kriegsfall unsere Flotte aufsplittern würde«, warf der Kapitänleutnant ein. »Insofern ist Nordmarsch-Langeness entbehrlich. Allerdings hörte ich schon gelegentlich äußern, dass die Großschifffahrt nach einem Leuchtfeuer an der Westspitze dieser Hallig verlangt. Nicht alle Kapitäne von Frachtern sind des Lesens von Seekarten mächtig. Besonders, wenn die Reeder sich unerfahrene junge Leute nehmen, um Kosten zu sparen É« Er gluckerte vor Lachen in sich hinein.
»Ich«, fiel der gewichtige Bauinspektor Lorenzen, Kreisbaumeister in Tondern, ihm ins Wort, »stehe der Erhaltung der Halligen prinzipiell immer noch positiv gegenüber. Sie sind nicht unrecht, die Leute da draußen, kenne selbst ein paarÉ Aber im Umgang mit Steinen sind die Männer unerfahren, einen Steindeich können sie nicht ordentlich bauen. Da müssen Fachleute her. Ich mache mich erbietig, Handwerker aus meinem Bereich auszuleihen É«
»Ein Steindeich wird zu teuer, darüber waren wir uns doch schon einig«, unterbrach ihn der Oberbaudirektor, der aus Schleswig stammte, erregt.
Baron von Holsten hieb mit der flachen Hand und erboster Miene auf den Tisch, worauf das allgemeine Reden, das drauf und dran war, in hitzige Privatgespräche zu zerfallen, wieder verstummte. »Bemühen Sie sich um Disziplin, meine Herren«, verlangte er. »Das ist wohl das Mindeste, das man von uns erwarten kann. Für Gott und Kaiser!«
Du liebe Zeit, dachte Hansen. Sein Ahn in der Leibwache des dänischen Königs Waldemar hatte zwar sicherlich für Gott und König gerufen, aber dasselbe gemeint wie der Baron. Seit tausend Jahren traten sie auf der Stelle. Statt endlich einmal »für die Menschen!« zu rufen und zu handeln.
»Jede weitere Diskussion ist im Augenblick müßig«, setzte der Vorsitzende griesgrämig fort. »Berlin mahnt zur Eile, wie ich schon sagte, wobei mir rätselhaft ist, wer sich da unter Umgehung der preußischen Regierung zu Gunsten der Inseln eingeschaltet hat.«
»Man könnte mutmaßen É«, warf der kleinwüchsige Kapitänleutnant eifrig ein, jedoch wurde er durch eine Handbewegung des Barons zum Schweigen gebracht.
»Berlin droht Fakten zu schaffen, auch ohne abschließendes Urteil der Kommission für Wasserbauangelegenheiten. Aber Berlin kann nicht ohne uns É Und wir werden wie bisher weiterarbeiten.«
Also noch mal zwanzig Jahre, schoss Hansen durch den Kopf, während er Dankbarkeit für die Intervention durch Berlin empfand.
»Die künftigen Projekte - für welche wir auch immer votieren - sollen nunmehr vorbereitet werden. Mit anderen Worten: Man muss mit den Halligleuten reden, um zu erfahren, was sie darüber denken. Wenn sie überhaupt denken É«
Nur der Kapitänleutnant stimmte zu diesem flachen Witz ein Gelächter an.
»Im Gegensatz zu Herrn Hansens übertrieben positiver Meinung, was diese Menschen angeht, habe ich gehört, dass sie nicht einfach sein sollen, sondern störrisch und zuweilen sogar feindselig.« Der Oberdeichgraf machte eine Pause, worauf sich erneut leises Gerede erhob.
Sönke Hansen verzichtete auf Widerspruch sowie auf Mutmaßungen, wer auf die Hallig reisen würde. Am besten von Holsten selbst, dachte er verdrossen. Zwei Tage am Ort und die Halligleute würden blindlings alles ablehnen, was mit dem Baron auch nur im Entferntesten zu tun hatte. Und das wollte er doch. Dann würde der Regierung nur die Umsiedlung der Bewohner bleiben.
»Berlin macht zur Bedingung, dass diese Vorbereitung zukünftiger Maßnahmen durch die Wasserbauinspektion Husum wahrgenommen wird«, sagte von Holsten, jetzt sichtlich vergrätzt. »Die Kommission ist übergangen worden.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.05.2005