14.05.2005
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Bis heute ist südlich von Abu Simbel für die allermeisten Reisenden Schluss. Den derzeit einzigen offenen Grenzübergang bei Wadi Halfa erreichen allenfalls gut ausgerüstete wagemutige Offroader per Assuan-Fähre.
Nach 20 langen Jahren Krieg zwischen Nord und Süd, mit Völkermord in der Westprovinz Darfur und Scharia-Gesetzen auch für Ausländer ist der Sudan kein Urlaubsland. Nur wenige verlieren sich in der vergleichsweise ruhigen nubischen Wüste. Dort im Norden sind fast unermessliche Kulturschätze in großer Einsamkeit zu entdecken.
Auf dem ägyptischen Nil drängen sich 300 Hotelschiffe, die archäologischen Sensationen im Sudan sind dagegen fast so unberührt wie zu Vater Brehms Zeiten. Der Berichterstatter war an einem Vormittag einziger Besucher des Nationalmuseums in der Hauptstadt Khartum. Sensationelle Funde, drei Tempel und Abertausende von Hieroglyphen hatte der Betrachter für sich allein.
350 Kilometer nördlich liegt Meroé. Mit Ägyptens Neuem Reich endete mitnichten die Zeit der Pharaonen. Dem Verblühen im Kernland Ägyptens folgte eine fast vergessene Hochphase weiter südlich. Im achten und siebten Jahrhundert vor Christi beherrschten die »schwarze Pharaonen« genannten Könige von Kusch ein Weltreich, das von den Quellen des Nil bis in den heutigen Libanon reichte. Aus dem Reich Kusch (1000 bis 270 vor Christi) entwickelte sich nach der Zerstörung von Napata das zweite, noch weiter nach Süden verlagerte Reich von Meroé (270 vor bis 350 nach Christi). Zwischen fünftem und sechstem Katarakt befindet sich das größte Pyramidenfeld der Antike. Besucher stoßen auf bis zu 80 Meter hohe Pyramiden, Dutzende von Königs- und Hunderte von Königinnengräber.
Enttäuschend dagegen ist der Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil bei Khartum. Nur nach der Regenzeit im August/September ist die Verfärbung erkennbar.
Eine Schwemmlandinsel teilt den Blauen Nil. Ein Arm vermischt sich dann westlich des Regierungsviertels mit dem Weißen Nil. Nördlich der Tuti-Insel vollendet sich die Vereinigung zum Mega-Strom.
Dort nahmen die Handels- und Forschungsreisen zu den sagenhaften Nilquellen im 18. und 19. Jahrhundert ihren Ausgang. Brehm selbst begnügte sich mit Vorstößen auf beiden Nilarmen von weniger als 1000 Kilometern. Der Brite John Hanning Speke erreichte wenig später, 1858, den Victoriasee und 1862 die Riponfälle. Sir Samuel White Baker entdeckte 1864 den Mobutu-Sese-Seko-See.
Der Deutsche Georg August Schweinfurth erforschte von 1868 bis 1871 die westlichen Zuflüsse des Weißen Nils und mit ihm der Angloamerikaner Sir Henry Morton Stanley. 1875 segelte Stanley um den Victoriasee. 1889 fand er den Fluss Semliki und erreichte den Eduardsee sowie die Ruwenzoribergkette.
Stanley hatte zuvor dem brennend interessierten Lesepublikum in Europa den Knüller überhaupt geliefert. Er fand den verschollenen David Livingstone.
Die Quellen des Nils galten seit der Antike als eines der großen ungelösten Rätsel der Menschheit. Kein Wunder, dass aller Augen auf den großen Entdecker Livingstone gerichtet waren, als dieser im März 1866 seine Expedition ins Herz Afrikas startete. Doch wenige Monate später war der Forscher verschwunden - vom sumpfigen Dickicht des Dschungels verschluckt.
Jeder Versuch, ihn zu finden, schlug fehl. Erst 1871 traute sich besagter Henry Morton Stanley, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Dabei traf er auf Kannibalen und Sklavenhändler, erkrankte an Malaria, überlebte bewaffnete Überfälle und entdeckte ein Land von gefährlicher, ungezähmter Schönheit. Und dann - nach neun Monaten und mehr als 900 Meilen Fußmarsch - stand er plötzlich einem ausgemergelten alten Mann gegenüber, um den berühmtesten Satz europäischer Reiseliteratur zu sprechen: »Mr. Livingstone, I presume.«
Reinhard Brockmann
Artikel vom 14.05.2005