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Kein Blatt vor den Mund genommen

»Stichlinge« überzeugten mit ihrem kabarettistischem Rundumschlag

Von Malte Samtenschnieder
(Text und Foto)
Senne (WB). Hoch her ging es am Sonntag beim Kabarettabend mit den Mindener Stichlingen im Forum des Schulzentrums Senne. Jenseits gängiger Stammtisch-Parolen nahmen Dieter Fechner, Kirsten Gerlhof, Christine Rohlfing und Oliver Roth bei ihrer in der fiktiven kleinbürgerlichen Kneipe »Schöne Aussicht« angesiedelten Analyse der »gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeit« kein Blatt vor den Mund.
Dieter Fechner, Kirsten Gerlhof, Christine Rohlfing und Oliver Roth waren bei ihrem Auftritt im Senner Schulforum in ihrem Element.
Entlarvte Klischees sind dazu da, sie überzeichnet herauszuarbeiten und mit einmal mehr, einmal weniger großem Getöse ad absurdum zu führen. Getreu dieser Devise hatten Ensemble-Leiter Birger Hausmann und sein scharfzüngiges Kabarett-Quartett für ihr inzwischen 13. Gastspiel in Senne einen explosiven Pointen-Mix zusammengestellt, der, einmal zum Lodern gebracht, bei den 370 Zuschauern im ausverkauften Schulforum ein Feuerwerk der Begeisterung entfachte.
Verpackt als schmackhaftes, bisweilen jedoch nicht leicht verdauliches 17-Gänge-Menü tischten die Akteure innerhalb von zwei Stunden peu à peu ihre unverblümte Weltsicht auf. Mit der Rückbesinnung auf (pseudo)-christliche Werte - »Jeder hat das Recht auf ein Haus, ein Auto, einen Flachbildschirm und sichere Rente« - begann der Rundumschlag.
Spionage bis ins Schlafzimmer, um gerissene Arbeitslosengeld-II-Betrüger dingfest zu machen, sei dabei durchaus angebracht, um den allgemeinen Lebensstandard zu sichern, so die Akteure. Konfrontiert mit dem Ausspruch »Sie leben in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Ihr Partner schläft nackt« machte sich jedoch im Publikum ein wenig Angst vorm totalen Überwachungsstaat breit.
»Positive Kognition«, verbunden mit der Einsicht, dass Südländer weniger nörgeln, weil ihnen ständig die Sonne auf den Bauch scheint, erhielt anschließend im Auditorium Einzug. Doch auch korrumpierte Lieblings-Bibelverse verschiedener Politiker - »Was ihr von anderen erwartet, tut auch ihnen« - sowie munteres Balladenrecycling mit einer lispelnden Literatur-Eminenz à la Reich-Ranicki sorgten beim Publikum für Hochstimmung.
Eine schelmische Zukunftsvision gelang dem Ensemble zudem durch den »Talkshow-Auftritt« von Bundeskanzlerin Jutta Schachtel. Ihre provokative Forderung, sanierungsunfähige Bundesländer als Atomtestgelände an Amerika abzutreten, bleibt aber wohl eher ein abstruses Gedankenspiel.
»Kann denn Lüge Sünde sein?« Unter dieser Überschrift demontierten die Akteure bei ihrem Abschlusssong - unterstützt von Pianist Dietmar Möller, der für diverse virtuose musikalische Umrahmungen sorgte - die allgemeine Tendenz, nicht wählen zu gehen. Ein schlimmer Trend, der dem Wesen der Mindener Stichlinge gar nicht entspricht. Denn unterhaltsam-pointiert legen sie im 39. Jahr ihres Bestehens in bewährter Manier den Finger in manche klaffende Wunde und zeigen dabei ungeschönt und respektlos Handlungsbedarf auf. Vom Senner Publikum ernteten sie dafür viel Applaus, wofür sie sich - selbstverständlich - mit einer Zugabe bedankten.

Artikel vom 03.05.2005