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Lawinen, berstende
Silos und die »Pamir«

Antrittsvorlesung von Bärbel Fromme über Granulate

Bielefeld (sas). Die Geröll-Lawine rast zu Tal. Doch statt in der Ebene zum Stillstand zu kommen, breitet sie sich kilometerweit aus und richtet verheerende Schäden an: Fast reibungsfrei rutschen die großen Gesteinsbrocken auf kleineren weiter. Lawinenforscher vermuten, dass die »Entmischung« des Gerölls die Ursache dafür ist, erklärt Prof. Dr. Bärbel Fromme.

Das Spezialgebiet der Physikerin ist die Elektronenspektroskopie, ihr »Hobby« aber sind Granulate: Teilchen, die in Massen auftreten - wie Sand, Zucker, Mohn, Erbsen oder eben auch schon mal Geröll. Und wer glaubt, dass die Physik dieser »Schüttgüter« banal sei, den belehrt Bärbel Fromme eines Besseren. Seit Oktober hat sie an der Uni Bielefeld den Lehrstuhl für Physik und ihre Didaktik inne; ihre Antrittsvorlesung hat sie über granulare Materie gehalten.
Granulate, erklärt sie, spielen in der Industrie, auf dem Bau und in der Landwirtschaft eine große Rolle. »Sie werden transportiert, gelagert, gemischt und dosiert. Und bei all diesen Prozessen können Probleme, ja sogar Katastrophen auftreten.« So können Trichter und Auslassöffnungen verstopfen, Silos sogar bersten, und auch der Untergang des Segelschiffs »Pamir«, bei dem 1957 80 Menschen ums Leben kamen, wurde durch das besondere Verhalten von Granulaten - in diesem Fall Getreide - im Laderaum verursacht.
Wie sich die Granulate nun verhalten, führt die Wissenschaftlerin mit einfachen, aber beeindruckenden Experimenten vor. Die lassen den Laien Sand und Zucker mit anderen Augen sehen. »Das Schöne ist, dass interessante Effekte gezeigt und Granulate mit klassischer Mechanik verstanden werden können.« Und weil man es mit vielen, vielen Teilchen zu tun hat, ist diese Physik doch eine moderne Wissenschaft, die seit zehn, 15 Jahren boomt.
Denn auch wenn Kinder seit Urzeiten am Strand Sandhaufen aufschichten, ermöglichen erst moderne Rechner, ihr Verhalten zu kalkulieren. Dabei gilt: Je grobkörniger der Sand ist, desto höher lässt er sich aufschütten, weil der so genannte Ruhewinkel größer ist. Kippt man nun einen solchen Sandhügel, bleibt er zunächst in Ruhe, bis urplötzlich und unaufhaltsam die Fließbewegung einsetzt. Genau das ist bei der »Pamir« geschehen: »Das Schiff hatte das Getreide nicht in Säcken, sondern lose geladen. Als es in schwere See geriet und Schlagseite bekam, genügte ein leichtes, weiteres Anheben, um den Ruhewinkel zu überschreiten: Das Getreide kam in Fluss und brachte das Schiff zum Kentern.«
Das spezielle Verhalten von Granulaten lässt aber auch Silos bersten. »Bei einer Wassersäule in einem hohen Glas nimmt der Druck linear nach unten zu - wie das Gewicht, das darüber steht.« Bei Granulaten ist das nicht so: »Die Gewichtskraft wird nicht nach unten durchgegeben, sondern ungeordnet auch über die Teilchen zu den Seiten - das ist das Prinzip eines gotischen Bogens.« Wenn sich nun beim Entleeren eines Silos eine »Brücke« bildet, unter der es hohl ist, kann es zu plötzlichen Kraftspitzen kommen - der Silo hält dem Druck nicht stand und birst. »In modernen Silos arbeiten deshalb immer ÝRührstäbeÜ, die diese Kraftketten vermeiden.«
Dank des Verhaltens von Granulaten zaubert Bärbel Fromme aber auch Muster - und nutzt dabei die Tatsache, dass sich Granulate nicht gut mischen. Langsam schüttet sie eine Mixtur aus braunem Zucker und feinem hellen Sand in einen schmalen Schaukasten aus Plexiglas: Zucker und Sand entmischen sich, es bilden sich Streifen in jeweils zwei Lagen - die dann auch noch von unten nach oben laufen! »Ursache ist der Siebeffekt: Die großen Teilchen rutschen an der Oberfläche auf den kleinen, die zwischen ihnen durchgefallen sind, hinunter.« Genauso funktionieren Lawinen - weshalb sich die Lawinenforscher für die Physik der Granulate interessieren.

Artikel vom 13.05.2005