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»Amöbenruhr - da wog
ich nur noch 40 Kilo«

Wilhelm Oermann überlebte das Todeslager am Rhein

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Eigentlich war alles gelaufen. Die Wehrmacht hatte Wilhelm Oermann entlassen; der 16-Jährige wollte nach Hause, nach Bielefeld. Aber aus dem Ruhrkessel kam er nicht mehr heraus - und dann ging es nach Remagen. In die amerikanischen Todeslager auf den Rheinwiesen.

Am 12. Januar 1944 war Wilhelm Oermann, gerade 15 Jahre alt, zusammen mit einigen Klassenkameraden der Bosseschule als Luftwaffenhelfer eingezogen worden. Mit einer schweren Flak (10,5 cm) waren die Jungen zunächst in Oldentrup stationiert und ihre Batterie verlegte - zufällig - am Tag der Invasion in der Normandie (6. Juni) nach Hamm.
Im November wurde es vollends ernst: Oermanns Batterie bezog bei Ladbergen-Hölter Stellung, um den Durchfluss der Glane unter dem Dortmund-Ems-Kanal zu schützen. »Ein hoffnungsloses Unterfangen«, sagt der heute 76-Jährige. »Bei jedem Bombenangriff wurde der Kanal getroffen, das Wasser lief aus, Fremdarbeiter reparierten das Kanalbett, und alles begann wieder von vorn.«
Der englische Angriff am Neujahrstag war insofern etwas besonderes, als sich aus dem Abschuss eines Lancaster-Bombers Jahrzehnte später freundschaftliche Kontakte zu RAF-Piloten ergaben: 1982 besuchte der Neuseeländer Harry Denton, der Pilot der notgelandeten Maschine, zusammen mit Crew-Mitgliedern und mit dem einstigen Gegner Wilhelm Oermann den Glanedurchlass. »Mit Denton stehe ich noch in regem Briefkontakt.«
548 Schüsse aus »seiner« Flak (inzwischen tat er bei einer 8,8-cm-Batterie Dienst) - das war Rekord, als Oermann und seine Kameraden in der Nacht auf den 4. März den schwersten Angriff des ganzen Krieges zu überstehen hatten. Fotos zeigen eine Mondlandschaft, Krater reiht sich an Krater. Den Tod, der damals vom Himmel fiel, kann der einstige Luftwaffenhelfer seit 1982 sogar in Händen halten: Zwei übel gezackte Splitter von Sprengbomben erinnern Oermann an das Grauen des Luftkriegs.
Drei Wochen später musste der Junge an die Front bei Gelsenkirchen, aber natürlich war da nichts mehr zu machen. »Wir gingen ständig zurück, und am 15. April wurde ich entlassen.« Oberleutnant Herbert Leipold, der Batteriechef, riet den Jungs, schnellstmöglich »abzuhauen«, aber tags darauf wurde Oermann, bereits in Zivil, in der Nähe der Dechenhöhle von den Amerikanern erwischt.
Die Sieger verfrachteten den schmächtigen Jungen, 1,60 Meter groß, 60 Kilo schwer, auf die Rheinwiesen, die wenig später traurige Berühmtheit erlangen sollten: Tausende starben hier eines elenden Todes.
»Wir haben uns mit leeren Konservenbüchsen Erdlöcher gegraben, die nur notdürftig Schutz boten«, erinnert sich Oermann. »Zu essen gab es eine amerikanische Eiserne Ration. Wasser wurde zwar, weil unsere Bewacher panische Angst vor Seuchen hatten, nur zusammen mit Chlortabletten ausgegeben, aber dennoch grassierte bald die Amöbenruhr.«
Die tödliche Krankheit erwischte auch Oermann. »Ich hatte aber die kleinen Behälter mit Kaffeepulver gesammelt, die ich nach der Rückkehr meiner Oma schenken wollte. Und nun lief das Gerücht um, Kaffee sei gut gegen die Darmbeschwerden - und in der Tat: Es hat geholfen.«
Dass der schließlich kaum noch 40 Kilo wiegende Gefangene überlebte, grenzt trotzdem an ein Wunder. Dass er jedes Ereignis so genau berichten kann, ist auch mirakulös: Trotz strenger »Filzung« brachte Oermann ein winziges Notizheft und einen Bleistift durch jene Wochen und Monate - so ein authentisches Dokument aus schwerer Zeit besitzen nicht viele Veteranen des Weltkriegs.
Oermanns Leidensweg sollte nun bald ein Ende finden. Am 10. Juni überstellte ihn die US-Armee an die Engländer, am 13. ging's von Dortmund-Aplerbeck mit 40 Reichsmark Entlassungsgeld in der Tasche zurück in die Heimat.
»Am 14. Juni, gegen 13 Uhr, stand ich vor der elterlichen Wohnung in Bielefeld. Vater und Mutter und mein acht Jahre jüngerer Bruder waren zufällig zu Hause - da flossen natürlich ein paar Freudentränen.«
Tausende Gleichaltrige haben das Schicksal des jungen Luftwaffenhelfers aus Bielefeld geteilt; Tausende kamen nicht mehr nach Hause. Viele mögen bis heute nicht von den Schrecknissen erzählen, aber Wilhelm Oermann findet es wichtig, dass die Jugend davon erfährt. Die oft gehörte Beschwörungsformel »Nie wieder Krieg!« hat der 76-Jährige um die - entscheidende - politische Komponente vertieft: »Nie wieder Diktatur - die hat den Krieg ja erst entfesselt.«
l Übrigens: Friedensmuseum und Stadt Remagen veranstalten am Samstag, 18. Juni, ein Treffen der ehemaligen Lagerinsassen. Wer nähere Informationen dazu sucht, findet sie unter www.bruecke-remagen.de im Internet. E-Mail: infos@bruecke-remagen.de; Telefon: 0 26 42 / 2 01 59.
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Artikel vom 29.04.2005