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»Weiterarbeiten, bis einer getötet wird«

Schutzwesten-Hersteller soll Opfer in Kauf genommen haben - Minister war 2004 informiert

Von Christian Althoff
Düsseldorf (WB). Der US-Hersteller »Second Chance« soll wissentlich mangelhafte Schutzwesten an die deutsche Polizei geliefert und einer Firmen-Email zufolge den Tod von Polizisten in Kauf genommen haben. Von diese Email soll NRW-Innenminister Fritz Behrens (SPD) bereits im Mai 2004 gewusst haben, doch erst drei Monate später ließ er eine erste Warnung an seine Polizeidienststellen verschicken.
Horst Engel warnte bereits 2001 vor der Kunstfaser.

Wie berichtet, muss Nordrhein-Westfalen 33 360 Schutzwesten vorzeitig aus dem Verkehr ziehen, weil einzelne Exemplare Beschusstests nicht mehr bestanden haben. Die Westen waren zwischen 2001 und 2003 für 38 Millionen Euro angeschafft worden. »Für diese Steuergeldverschwendung ist der Innenminister persönlich verantwortlich«, sagte gestern Horst Engel, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Landtag. Er hatte vor der Beschaffung der »Second Chance«-Westen mit Hinweis auf Laboruntersuchungen davor gewarnt, dass die neuartige Faser Zylon durch Schweiß und Luftfeuchtigkeit sehr schnell altert und ihre Festigkeit verliert. »Ich habe meine Bedenken damals dem Minister persönlich vorgetragen und ihm Diagramme über das Alterungsverhalten der Kunstfaser vorgelegt«, erklärte Engel gestern. Behrens habe dem aber keine Beachtung geschenkt.
Ein Sprecher des NRW-Innenministeriums erklärte, das Land habe sich für die leichten »Second Chance«-Westen entschieden, weil diese bei Trageversuchen von Polizisten favorisiert worden seien. Dazu sagte Rainer Wendt, der Landesvorsitzende der Deutschen Polizei-Gewerkschaft (DPolG), die Beamten hätten sich damals »natürlich« für die leichteste Weste entschieden: »Uns hat ja niemand gesagt, dass die möglicherweise nicht so sicher ist!«
Nachdem in den USA bereits 2003 drei Polizisten trotz ihrer »Second Chance«-Westen angeschossen worden waren, findet in Minnesota derzeit ein Betrugsprozess gegen den Hersteller statt. »Second Chance« wird vorgeworfen, die Westen mit dem Wissen verkauft zu haben, dass sie nicht lange halten. »In den Prozessunterlagen finden sich interne Emails von Second Chance«, sagte Horst Engel. So heißt es etwa in den Unterlagen, die dem Abgeordneten vorliegen, dass man in Deutschland »in 18 Monaten Schutzwestengeschäfte von 100 Millionen Dollar« machen könne. Der Gründer des Unternehmens wird mit den Worten zitiert, dass die Westen bereits nach sechs bis 18 Monaten die deutsche Norm nicht mehr erfüllen würden. Weiter heißt es, eine Lösung sei »weiterarbeiten, als ob nichts wäre, bis einer unserer Kunden getötet oder verletzt wird«. Eine Klage Deutschlands werde »fünf bis zehn Jahre dauern« und nach einer Insolvenz der Firma keine Chance haben.
Diese brisanten Unterlagen hat der in der Sicherheitsbranche arbeitende, selbstständige Dipl.-Ing. Wolfgang Schulz aus Neu-Ulm nach eigenen Angaben NRW-Innenminister Fritz Behrens mit Schreiben vom 11. Mai 2004 zur Verfügung gestellt. Im Antwortbrief des Ministers vom 27. Mai 2004 heißt es lapidar, bei den Westen in NRW seien bisher keine Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. Man werde die weitere Entwicklung aber »selbstverständlich beobachten«.
Engel: »Behrens hätte sofort reagieren und seine Polizisten warnen müssen. Angesichts eines derart kriminellen Lieferanten hätte der Minister nicht weiter auf eine gleichbleibende Lieferqualität von 33 000 Westen vertrauen dürfen.« Sich nur auf die alle sechs Monate in NRW stattfindenden Beschusstests einzelner Westen zu verlassen hätte fatal enden können, erklärte Engel.
Fritz Behrens hatte im August erstmals auf Schwächen der Westen hingewiesen und vor zwei Wochen in einem Schreiben an die Behörden einräumen müssen, dass die Festigkeit der Westen »merklich abnimmt«. Das Land hat bereits neue Westen bestellt.

Artikel vom 27.04.2005