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Frankfurt - ganz dörflich
Wie Herr Fukuda aus Tokyo die Großstadt entdeckte - und überrascht wurde
Alles begann damit, dass schlechtes Wetter über dem Norden Russlands dem Flieger aus Tokyo so viel Verspätung einbrachte, dass in Frankfurt der Anschlussflug nach Vilnius nicht mehr erreicht wurde.
Herr Fukuda war der Ansicht, dass man sich darüber nicht beschweren dürfe, damit die Mitarbeiter der Fluggesellschaft nicht ihr Gesicht verlören. Schon für den Folgetag hatte man ihm den Weiterflug versprochen, mehr könne er nicht erwarten und auch weil er Flughafenhotels nicht möge, wolle er sich selbst auf die Suche nach einem Nachtlager machen.
So kam Herr Fukuda zur Quartiervermittlung und bat um ein preiswertes Hotel in Frankfurt. Er leistete eine Anzahlung und bekam einen Voucher. Der Shuttlebus mit dem Namen »Hotel Post« verwirrte ihn indes etwas. Er konnte sich den Zusammenhang zwischen Briefbeförderung und Gästebeherbergung nicht recht erklären.
Herr Fukuda hatte die Wolkenkratzer von »Mainhattan« im Anflug aus dem Fenster erblickt und war daher mehr als überrascht, als der Fahrer in einem hübschen Dorf anhielt. Aber da standen an einem schiefergedeckten Haus tatsächlich die Worte »Hotel« und »Post«. An der Rezeption wurde er freundlich empfangen, Briefschalter und Paketannahme hingegen entdeckte er nicht. Frühstück gebe es bis zehn, hatte der nette Portier gesagt - und dass er das Zimmer gerne etwas länger behalten dürfe, weil doch der Weiterflug erst am frühen Abend wäre.
Als Herr Fukuda am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, stellte er fest, dass Frankfurt so ganz anders aussah, als er sich das vorgestellt hatte. Nein, mit der S-Bahn wolle er nicht fahren, aber gerne einen Spaziergang unternehmen. Denn Herr Fukuda dachte daran, wie weit es aus den Tokyoter Vororten zu den glitzernden Shoppingparadiesen von Ginza, Shibuya und Shinjuku ist.
Sindlingen ist Frankfurts westlichster Stadtteil, ein in sich abgeschlossenes Dorf am Main. Herr Fukuda freute sich über die warme Frühlingssonne und die blühenden Bäume, die ihn an die Kirschblüte daheim erinnerten. Beinahe ehrfürchtig stand er am Flussufer und blickte zum »Meisterhaus« hinauf. Dort musste ein reicher Mann wohnen. Aber Frau Müller, die mit ihrem Hund des Weges kam, erklärte ihm, dies sei ein Heim, in dem ehemals von Drogen Abhängige auf ihr neues Leben vorbereitet würden. Einen Hund spazieren zu führen, das kam Herrn Fukkuda ebenso seltsam vor wie die Bestimmung des schönen Anwesens.
Dann kam Herr Fukuda in die Nähe eines futuristischen Hauses. Drei abgeschrägte Säulen ragen in den Himmel, die Geschosse schwebten gleich der Brücke eines Schiffes. Und davor ein Gebäude, welches ihn an den Bauhausstil erinnerten. Hinter dem Zaun schien ein Gärtner zu arbeiten. Herr Fukuda war mehr als verwundert, dass es sich nicht um einen Park handelte, sondern um das Klärwerk. Und warum die Holzbank und der Tisch in der Nähe stark angekokelt waren, gab ihm ebenfalls Rätsel auf.
Ein junger Mann konnte das aufklären: »Das waren Chaoten, die nichts besseres zu tun hatten, als der Allgemeinheit Schaden zuzufügen.« Und nach einer Weile fügte er hinzu, er sei arbeitslos, aber seinen Frust so auszuleben, das käme ihm nicht in den Sinn. Das verstand Herr Fukuda, der es von Zuhause gewöhnt ist, dass man seine Gefühle nicht zu Markte trägt.
Auf dem Weg zurück zum »Hotel Post« erblickte er mitten im Dorf einen Reitstall und wurde Zeuge, wie eine Mutter mit ihren Kindern schimpfte, weil sie auf die Straße gerannt waren. Außerdem entdeckte er ein Quad vor einem Fachwerkhaus und fragte sich, ob denn wohl in der Umgebung von Frankfurt, das er sich so ganz anders vorgestellt hatte, irgendwo eine Wüste sei, für die man dieses Fahrzeug brauche. Thomas Albertsen

Artikel vom 30.04.2005