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250 Kilo TNT lähmten
die Kammeratsheide

Profi Rudi Mende lebt seit 30 Jahren mit der Bombe

Von Michael Diekmann
und Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). »So lange hat der Job noch nie gedauert«, gesteht Rudi Mende (58) und wischt sich den Schweiß von der Stirn. 12.47 Uhr an der Kammeratsheide. Fast zwei Stunden hat der Kampfmittelräumer mit der amerikanischen Zehn-Zentner-Bombe im nassen Lehm gerungen, musste sein ganzes Können aufbieten: »Der Koloss stand in sechs Metern Tiefe senkrecht.« Kurz nach dem Signal des Profis löst sich die Spannung über dem Schüco-Gelände. Geschafft! Zurück im Alltag.
Rudi Mende erklärt Rainer Sander (Feuerwehr) und Horst Bräuer (Schüco-Wehr) den Dreistufenzünder.
Lagebesprechung: Feuerwehrchef Rainer Kleibrink mit Maik Brinkmann (Schüco), Thomas Brüggemeier, Horst Bräuer, Edgar Schuster, Rainer Sander und Reinhard Sempf (moBiel).

Rudi Mende hat viele Helfer. Seit dem Fund der auch nach 60 Jahren noch absolut funktionstüchtigen Ladung von 250 Kilogramm TNT-Sprengstoff im ebenso schweren Stahlmantel mit zwei effektiven Zünder hat sich rund um das »Corpus delicti« ein höchst effizientes Netzwerk von Feuerwehr, Rettungskräften, Schüco-Verantwortlichen, Verkehrsunternehmen und Polizei entwickelt. Ohne die Helfer ist Mendes Arbeit nicht möglich. In der »Stunde null« sind der Profi vom Kampfmittelbeseitigungsdienst aus Detmold und seine vier Helfer allein, ganz allein.
Sonntag, 10 Uhr: Auf dem Parkplatz, den Schüco samt Versorgungscontainer für Spediteure eingerichtet hat, herrscht Hochbetrieb. Drinnen kocht Klaus-Peter Bruchmann (44) Kaffee, gibt die ersten 60 Brötchen aus. Nebenan in der Schaltzentrale der Feuerwehr sitz Einsatzleiter Rainer Kleibrink mit den Verantwortlichen zusammen. Rainer Sander und Edgar Schuster, bei der Feuerwehr für den Sektor Katastrophen und Kampfmittel zuständig, sind ebenso spannungsgeladen wie Maik Brinkmann (34). Der Chef der Schüco-Werksfeuerwehr ist bereits seit Freitag mit den Vorbereitungen für den großen Tag beschäftigt.
Bei der Überprüfung des Areals für die neue Schüco-Parkpalette war der explosive Koloss gefunden worden, abgeworfen nach Einschätzung Mendes im April 1945. Der Fund war - gewissermaßen - ein Glücksfall: Die Fundstelle lag nicht in dem üblicherweise nach den 60 Jahre alten Luftauswertungen der Alliierten vorgesehenen Fundradius von drei Metern, in dem 19 Bohrungen niedergebracht werden. Mende: »Wir brauchten zwei mehr.« Die Bombe lag sechs Meter vom eigentlichen Landepunkt entfernt in tiefstem Kammeratsheider Kittboden und gleich bei einer Wasserader, hatte sich nach dem Auftreffen wieder senkrecht gestellt.
Wie knifflig die Sache wirklich ist, ahnt um 10.30 Uhr in der Leitzentrale niemand. Insgesamt 210 Anwohner im 300-Meter-Radius sind evakuiert, die Straßen abgeriegelt, mehr als 60 Objekte Stück für Stück kontrolliert, jeder Klingelknopf gedrückt. Sämtliche Versorgungsleitungen von Wasser, Gas und Fernwärme sind abgeschiebert, wie die Stadtwerke-Fachleute sagen. Die meisten Anwohner der Kammeratsheide haben Ausweichquartiere wie in der Wellbachschule nicht in Anspruch genommen. Zu den Johannitern und ASB kommen nur ganze zehn Personen. Die meisten Kammeratsheider besuchen Verwandte oder Freunde. So wie Siegfried und Monika Fehse: Die waren bei der Tochter frühstücken, weit weg.
Als kurz nach 11 Uhr die letzte Stadtbahn an der Karolinenstraße durch ist, beginnt für Rudi Mende der Kampf mit der Bombe - im Schatten der Schüco-Zentrale. Es ist sonnig, aber die Ruhe über dem Viertel ist gespenstisch. Irgendwo weit weg läuten Kirchenglocken. Die Gespräche der beteiligten Reter können nicht von der unglaublichen Anspannung ablenken. Mit einem Ohr hängen alle am Funk. Warten auf ein Signal von Mende.
Um 11.45 Uhr ist der Kopfzünder entfernt. Es folgt Mendes Glanzstück: Mit feinem Werkzeug gräbt er den tief im Lehm steckenden zweiten Zünder am anderen Ende der Bombe frei. Als der Koloss aus der sechs Meter tiefen Grube gehievt wird, bleibt der Zünder im Morast zurück. Mende stoppt die Aktion: »In diese Grube steigt niemand mehr. Viel zu gefährlich.« Während die Bombe zur Entsorgung nach Ringelstein kommt, verschwindet der Zünder unter dem Fundament der Parkpalette. Um 12.47 Uhr kehrt an der Kammeratsheide der ganz normale Sonntag ein. Von Montag an wird bei Schüco weiter gebaut.

Artikel vom 25.04.2005